Die Muskulatur kann das Altern deutlich verlangsamen und nimmt auch Einfluss auf die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns, wie Dr. Dr. Michael Despeghel und Prof. Dr. Karsten Krüger in ihrem Buch «Jungbrunnen Muskulatur: Wie Sie Ihr Superorgan aktivieren und Alterungsprozesse stoppen» (Gräfe und Unzer) beschreiben. Im Interview mit spot on news erklärt Michael Despeghel, warum Kraftsport auch gleichzeitig Training für das Gedächtnis ist.
Ihr neues Buch trägt den Titel «Jungbrunnen Muskulatur». Inwiefern sind unsere Muskeln ein Anti-Aging-Mittel?
Michael Despeghel: Wir haben etwa 650 Muskeln, die für unsere Leistungsfähigkeit verantwortlich sind, und unter anderem das orthopädische System stützen. Wenig bekannt ist bisher aber, dass die Muskeln auch Einfluss auf die Bildung von Nervenzellen im Gehirn nehmen können. Die Muskulatur schüttet bei Bewegung Hormon-ähnliche Botenstoffe aus, die Myokine. Diese entstehen in den Muskelzellen und erreichen über das Blut viele Organe, wie zum Beispiel das Herz, die Bauchspeicheldrüse und auch das Gehirn. Bestimmte Myokine sind in der Lage, Signale an das Gehirn abzugeben, die die Entstehung neuer Nervenzellen ermöglichen. Und das hat Auswirkungen auf das Gedächtnis. Im Hippocampus, der Schnittstelle zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis, können lebenslang neue Nervenzellen entstehen. Die Myokine unterstützen das Gehirn dabei, diese Nervenzellen besser wachsen zu lassen, wenn die Muskulatur ausreichend trainiert wird. Vom Training des Muskelsystems profitiert also das Gehirn, das Gedächtnis wird besser. Zahlreiche Studien belegen, dass Menschen, die auch im Alter die Muskulatur trainieren, deutlich seltener von Demenz betroffen sind. Ab 70 ist jeder Dritte in den nächsten zehn Jahren gefährdet, eine Hirnleistungsstörung zu entwickeln. Die positive Wirkung der Myokine kann das deutlich relativieren.
Rein auf Ausdauersport wie Joggen zu setzen, um sich körperlich und geistig fit zu halten, ist demnach überholt?
Despeghel: Wenn man einen Topeffekt haben will, um abzunehmen, die Leistungsfähigkeit hochzuhalten und sich vor Krankheiten zu schützen, sollte man auf das polarisierende Training setzen - mit Kraft- und Ausdauertraining und jeweils einer Kombination aus intensiven Trainingseinheiten mit weniger intensiven. Ausdauertraining über lange Phasen ist nicht zielführend. Ein Umfang von etwa 20 Minuten ist gut, in der Zeit sollte es aber mit wechselnden Intensitäten durchgeführt und auch durch ein Krafttraining ergänzt werden.
Auch der Mythos, dass erst nach 30 Minuten Sport ein positiver Effekt erzielt wird, hält sich seit langem ...
Despeghel: Der Körper verbrennt am Anfang Zucker, um sich überhaupt bewegen zu können. Wenn er weiter gefordert wird, arbeitet er über Milchsäure und bei längerer Belastung sind die Fette an der Reihe. Am Ende geht es aber gar nicht darum, dass der Stoffwechsel mit Fett arbeitet. Das passiert auch schon nach fünf Minuten und nicht erst nach 30. Das Entscheidende ist, so viele Kilokalorien wie möglich zu verbrennen. Ob das Fettkalorien oder Kohlenhydratkalorien sind, spielt eine untergeordnete Rolle. Es zählt nur, dass die Kalorien weg sind, und das klappt viel besser mit einer trainierten Muskulatur. Die sorgt auch nach dem Sport noch aktiv für die Verbrennung und hilft, den Grundumsatz zu steigern.
Ist ein High Intensity Training für Einsteiger geeignet?
Despeghel: Ja, die Intensitäten lassen sich an den Trainingszustand anpassen. Untrainierte können sofort loslegen und sollten das auch. Aber eben in kurzen Einheiten, wie beispielsweise beim Walken: Hier könnte ein Anfänger zehn bis 20 Minuten schnelles Gehen einplanen und dabei jede Minute zehn Sekunden das Tempo richtig erhöhen, sodass er oder sie ausser Atem kommt. Die Schritte werden länger, grösser und schneller. Nach diesen zehn Sekunden geht man zurück auf das vorherige Tempo. Diese zehn Sekunden werden im Laufe der Zeit ausgedehnt. Das sorgt auch bei Einsteigern dafür, leistungsfähiger zu werden.
Stichwort «No Pain, no Gain»: Sollten Untrainierte gleich an ihre Grenzen gehen?
Despeghel: Ja. Diese Grenzen sind bei Untrainierten auch schnell erreicht. Die Zeitspanne spielt bei «No Pain, No Gain» allerdings eine wichtige Rolle, die sollte am Anfang kurz sein. Um die Leistung zu steigern, müssen aber auch Einsteiger an die Grenze gehen und sich richtig fordern. Das gilt jedoch nur für gesunde Menschen, Voraussetzung ist ansonsten eine Rücksprache mit dem Arzt.
Ist bei Frauen die Hemmschwelle, Kraftsport zu betreiben, grösser?
Despeghel: Frauen in der ersten Lebenshälfte sind da mittlerweile sogar sehr weit voraus, da es in der Instagram-Generation um Optik und Schönheit geht. Ältere Menschen, die weniger für sich tun, schieben das Krafttraining aber tatsächlich oft an die letzte Stelle, weil es einfach anstrengender ist. Dabei ist es wirklich wichtig, der Nutzen liegt teilweise über dem des Ausdauersports, weil Kraftsport durch die Myokine den Alterungsprozess besser bremsen kann. Wer eine Kombination aus Kraft- und Ausdauersport mit HIT-Elementen zweimal die Woche in Angriff nimmt, hat bereits vieles getan, um jünger zu werden und zu bleiben.
Reicht es in Sachen Kraftsport aus, zu Hause mit seinem eigenen Körpergewicht zu trainieren und beispielsweise auf Liegestützen und Planks zu setzen?
Despeghel: In unserem Buch stellen wir ein Sechs-Wochen-Programm vor. Man kann das zu Hause durchführen. Darin enthalten sind zum Beispiel Liegestütze, Planks und leichte Ausfallschritte. Man kann auch mit kleinen Wasserflaschen arbeiten. Der Muskel ist sehr dankbar für diese minimalen Reize, wenn diese regelmässig erfolgen. Es sollte schon anstrengend sein, aber man darf sich zeitlich nicht zu sehr überfordern. Fünf Minuten reichen schon aus, um Effekte zu haben.
Wie kann Ernährung beim Muskelaufbau helfen?
Despeghel: Proteine sind entscheidend dafür, dass Muskulatur wachsen kann und funktioniert. Die meisten Menschen achten sehr wenig auf eine regelmässige Proteinzufuhr. Wer ein Krafttraining-Programm macht, sollte darauf achten, und zum Beispiel Milchprodukte wie Quark zum Frühstück essen. Aber auch vegane Produkte wie Erbsen, Bohnen, Linsen oder andere Hülsenfrüchte sind proteinreich.
Diesen Winter dürfte es in vielen Häusern und Wohnungen wegen der Energiekrise ein paar Grad kälter bleiben als die Jahre zuvor. Kann das aus sportlicher Sicht auch ein Vorteil sein?
Despeghel: Generell sind überhitzte Räume körperlich nicht von Vorteil. Aber die meisten Menschen haben sich daran gewöhnt. Bei zwei, drei Grad weniger zu Hause ist es aber tatsächlich angenehmer, mit dem Krafttraining zu beginnen. Wer nach Hause kommt und erst ein paar Übungen macht, bevor er sich auf die Couch setzt, fühlt sich anschliessend sicher aufgewärmt. Der Stoffwechsel ist in kühleren Räumen zudem generell aktiver als in überheizten. Das Immunsystem freut sich auch, weil der Temperaturunterschied beim Rausgehen nicht so gross ist. Wer Energiesparen will, sollte zudem im Alltag aufs Fahrrad setzen, und dabei HIT-Einheiten einbauen. So fördert man zusätzlich den Anti-Aging-Effekt.