Thomas Greminger, 60, ist ein gefragter Mann. Der Zürcher ist ehemaliger Generalsekretär der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und heute Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik. Er war 2014 nach der russischen Besetzung der Krim massgeblich daran beteiligt, eine Beobachtermission für die Ukraine zu errichten. Er trifft die Schweizer Illustrierte in Zürich, nach einem Auftritt beim SRF, vor seiner Weiterreise nach Berlin. Dabei wäre er am liebsten am Ort des Geschehens. «Ich bin zwar ein analytischer Mensch. Aber eigentlich würde ich lieber handeln.»
Thomas Greminger, was geht uns Schweizer dieser Konflikt in der Ukraine an?
Eine militärische Operation in Europa betrifft uns alle. Die europäische Sicherheitsordnung, welche uns in den letzten 30 Jahren einigermassen Stabilität beschert hat, könnte Geschichte sein. Das schlimmste Szenario wäre ein neuer Eiserner Vorhang vor der ukrainischen Grenze und eine Situation wie im Kalten Krieg. Ein solches Europa wünschen wir uns alle nicht.
Was geht Ihnen angesichts der jetzigen Ereignisse durch den Kopf? Haben «Ihre» Beobachtermission und damit die OSZE versagt?
Jede internationale Organisation kann immer nur so viel zustande bringen, wie die Teilnehmerstaaten zulassen. 2014 war der Wille aller relevanten Akteure vorhanden, Deeskalationsmassnahmen einzuleiten.
Was kann die Beobachtermission heute ausrichten?
Sie ist nach wie vor «die Augen und die Ohren» vor Ort. Deshalb soll man ihre Berichte anschauen und sich nicht von vorgefertigten Meinungen leiten lassen. Ich glaube nicht an die westliche Idee, dass all diese Waffenstillstandsverletzungen der letzten Tage einem orchestrierten Drehbuch folgen. Eine erste Analyse der Tagesberichte deutet nämlich dahin, dass im Krisengebiet beide Seiten unprovozierte Waffenstillstandsverletzungen begingen. Was zudem häufig unterschätzt wird, ist, dass die Sondermission auch vermittelt und lokale Waffenstillstandsverletzungen zum Stoppen bringen kann.
Haben Sie derzeit Kontakt zu diesen «Augen und Ohren» vor Ort?
Keinen direkten, aber mein militärischer Berater liefert mir weiterhin Berichte, von denen ich täglich mehr als ein halbes Dutzend lese. Ich betrachte die Sondermission immer noch als mein «Baby», die Ukraine lässt mich nicht mehr los. Ich habe mit Bedauern zur Kenntnis genommen, dass gewisse Länder ihre Beobachter zurückzogen.
Was ist die Rolle des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik in diesem Konflikt?
Wir haben eine analytische Rolle als Organisation, der man Unparteilichkeit zutraut. Gleichzeitig organisieren wir Expertendialoge zu den Fragen, die gerade auf dem Tisch liegen. Ein grosses Thema ist einerseits das Recht eines jeden Staates, seine Sicherheitsbündnisse frei zu wählen, andererseits die Unteilbarkeit der Sicherheit, also der Grundsatz, dass kein Land seine Sicherheit auf Kosten eines anderen erhöhen darf. Sie sehen, was die Länder zwischen Russland und dem Nato-Raum betrifft, ist dies ein Dilemma. Das kann man nur mit Dialog und Diplomatie lösen.
Dass Russland Völkerrecht verletzt, passiert nicht erst seit gestern. Auch das Minsker Abkommen wird seit acht Jahren im Grenzgebiet gebrochen, von beiden Seiten. Was ist denn jetzt anders?
Was wir im Osten der Ukraine sehen, sind keine isolierten Waffenstillstandsverletzungen, sondern ist Teil einer grossen militärischen Drohkulisse. Dieses Setting ist anders als vorher. Wenn Wladimir Putins Brandrede tatsächlich nicht nur seinen Seelenzustand, sondern auch seine politischen Absichten widerspiegelt, stehen uns keine guten Zeiten bevor.
Womit wir bei der grossen Frage sind: Was will Wladimir Putin?
Es geht um die Staaten zwischen Russland und dem Nato-Raum. Putin will in dieser Zone keine Waffensysteme, die ihn bedrohen. Das ist die nachvollziehbare rationale Komponente. Selbst wenn die Nato jetzt nicht die Absicht hat, Russland anzugreifen, haben die Russen eben die Erfahrung gemacht, dass sie immer wieder aus dem Westen angegriffen wurden. Die Wahrnehmung der Nato als Feind ist im russischen Mindset verankert.
Russland tritt immer wieder als Aggressor auf – man denke an Konflikte in Georgien oder Moldawien. Solche Aggressionen sind ja stets eine Reaktion auf etwas. Was hat man denn Russland angetan?
Der Westen behandelte Russland als Verlierer des Kalten Krieges. Zudem rückt die Nato mit ihrer Osterweiterung immer näher an seine Grenzen. Das russische Narrativ der vergangenen Jahre ist eine lange Folge von Frustrationen, gebrochenen Versprechen und dem Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. In letzter Zeit wurde dieser Frustration immer deutlicher Ausdruck verliehen. Der Westen hat öfter ziemlich schnöde reagiert, bis hin zur Dialogverweigerung. Im Nachhinein gesehen war das kein besonders geschicktes Vorgehen.
Die Ukraine selbst zeigt sich erstaunlich gelassen …
Zum einen sind sich die Ukrainer die Rolle des Zankapfels gewohnt und lassen sich wohl weniger schnell aus der Ruhe bringen als andere. Zum anderen spielt die Situation der Ukraine auch irgendwie in die Karten: Je aggressiver sich Russland zeigt, desto mehr internationale Unterstützung gibt es für einen Nato- und einen EU-Beitritt, welche klar definierte Ziele der ukrainischen Aussenpolitik sind.
Dem steht die Forderung Putins gegenüber, die Ukraine solle freiwillig auf einen Nato-Beitritt verzichten. Ist das eine Option?
Die Ukraine wird nicht freiwillig verzichten, aber sie könnte zusammen mit anderen Ländern bereit sein, über damit verbundene Sicherheitsbedenken Russlands zu reden und zu verhandeln. Man könnte sich beispielsweise darauf einigen, keine Nato-Infrastrukturen wie Waffensysteme oder Nato-Truppen auf ihrem Boden zu stationieren.
Was für eine Rolle spielt die Schweiz?
Sie kann geschützte Räume für Verhandlungen zur Verfügung stellen, wie sie es in den letzten Monaten immer wieder getan hat. Das ist eine wichtige Funktion. Dann kann sie internationale Organisationen wie die OSZE stärken und fördern, damit sie ihren Job erfüllen können. Was eine Vermittlungsrolle der Schweiz angeht, bin ich sehr skeptisch. Das sehe ich im Moment nicht.
Nehmen wir an, Russland marschiert massiv in die Ukraine ein. Was passiert dann?
Die USA und die Nato haben klar kommuniziert, dass sie militärisch nicht eingreifen werden, sonst gäbe es wirklich einen Weltkrieg. Die Ukraine ist zwar bereit, sich zu wehren, aber Russland ist ein übermächtiger Gegner. Die Konsequenz für Russland wäre eine totale Abschottung, wir befänden uns im Kalten Krieg 2.0.
Spätestens dann gibt es einen Flüchtlingsstrom. Ist Europa darauf vorbereitet?
Es würden Millionen von Menschen kommen. Das wäre auf jeden Fall ein gigantisches humanitäres Drama.
Vorausgesetzt, die Diplomatie findet doch noch eine Lösung: Was muss das Learning des Westens sein aus dieser Krise?
Der Westen muss die legitimen russischen Sicherheitsbedenken ernst nehmen und diese mit ihnen diskutieren. Der Dialog muss unbedingt aufrechterhalten werden. Denn in Europa gibt es keine Sicherheit ohne Russland.