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Experten-Interview

Diskussionen nach Liam Paynes Tod: Haben Boybands keine Zukunft mehr?

Nach Liam Paynes Tod gibt es neue Diskussionen um die Musikbranche. Hat das System Teenie–Star und Boyband noch eine Zukunft und warum macht nach dem Ende der Gruppen oft nur einer der Mitglieder die grosse Solokarriere? Zwei Musikexperten geben Antworten.

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Weltweit trauern Fans um den ehemaligen One-Direction-Star Liam Payne.
Weltweit trauern Fans um den ehemaligen One-Direction-Star Liam Payne. Vuk Valcic / SOPA Images/ddp/Sipa USA

«Letztlich macht nur einer das Rennen»: Stephan Rehm Rozanes (geb. 1980) und Fabian Soethof (geb. 1981), die Autoren von «Back for Good. Warum uns die Musik der 90er nicht loslässt» (Reclam), haben sich in ihrem Buch auch mit dem System Boyband beschäftigt. Im Interview mit spot on news erklären sie, warum meist nur ein Sänger nach dem Ende der Gruppen zum erfolgreichen Solokünstler wird. Zudem verraten sie, warum sich nach dem Tod des ehemaligen One–Direction–Mitglieds Liam Payne (1993–2024) in der Musikbranche ihrer Meinung nach nichts ändern wird.

In Ihrem Buch «Back for Good» widmen Sie sich der Musik der 90er. Unter anderem beschreiben Sie darin auch das Phänomen Boyband. Nach dem Tod von Liam Payne wird erneut über diese Form des Celebrity–Aufbaus diskutiert. Denken Sie, es wird in der Branche zu einem Umdenken kommen, was mentale Gesundheit angeht?

Rehm Rozanes und Soethof: Die zahlreichen Dokufilme der jüngeren Vergangenheit von Robbie Williams über Echt bis Britney Spears gewährten uns ja schon erschreckende Blicke hinter die Kulissen. Wollte man damals so gerne deren Leben führen, freut man sich heute doch darüber, eine vergleichsweise ereignislose, aber dafür behütete Jugend verbracht zu haben. Das Thema mentale Gesundheit ist also nicht zu übersehen auf dem Tisch. Allerdings wird damit auch gerade viel Geld gemacht, sodass wir nicht vermuten, dass momentan Strukturen aufgebaut werden, die Popstars besser beschützen.

Guy Chambers, der Songschreiber und Freund von Robbie Williams, forderte nach Paynes Tod die Branche auf, nicht mehr mit Talenten unter 18 Jahren zu arbeiten. Sehen Sie für diese Idee eine Realisierungschance?

Rehm Rozanes und Soethof: Leider nein, denn es sind ja seit jeher Teenager, die der Musikindustrie die grössten Umsätze bescheren. Und Jugendliche auf der Suche nach Identität orientieren sich in der Regel an etwa Gleichaltrigen, die man als anschlussfähig wahrnimmt.

Haben Sie Liam Paynes Werdegang nach One Direction verfolgt, welchen Eindruck haben Sie bekommen?

Rehm Rozanes und Soethof: Paynes Solokarriere war von weitaus geringerem Erfolg gesegnet als die seiner Ex–Kollegen. Während vor allem Harry Styles zu einem Weltstar aufstieg, erreichte Paynes einziges Soloalbum 2017 gerade mal Platz 111 in den USA. Das kann nicht spurlos an einem vorübergehen, wenn man die gleichen Startvoraussetzungen hatte – und dazu seinen Werdegang in einem Alter angetreten hat, in dem man normalerweise noch nicht sonderlich gefestigt im Leben steht. Erst 2023 hatte Payne sich für einen Auftritt in einem Podcast, in dem er gegen seine alten Bandmitglieder gewettert hatte, entschuldigt und seine Aussagen kleinlaut als Versuch gewertet, «relevant zu bleiben». Ausserdem hat Payne auch keine bemerkenswerte musikalische Identität nach One Direction entwickelt: Während etwa Niall Horan erfolgreich auf Ed–Sheeran–artigen Folk–Pop setzte und Zayn Malik mit Future–R‹n›B reüssierte, blieb Paynes Material austauschbarer Dance–Pop.

Gibt es für das System Boyband noch eine Zukunft?

Rehm Rozanes und Soethof: Lou Pearlman, der betrügerische Erfinder von den Backstreet Boys und N*Sync, befand zu Lebzeiten wiederholt: «Solange Gott weiter kleine Mädchen erschafft, wird es immer Boybands geben.» Er vergass dabei, dass die sich vielleicht nach anderen, zum Beispiel weiblichen Identifikationsfiguren sehnen könnten oder ihre Teenie–Jahre nicht in die Hände eines auf Äusserlichkeiten angelegten Pop–Produkts legen wollen. Dennoch: Begreift man K–Pop mit Bands wie BTS, Stray Kids und Blackpink als logische, fast schon maschinell gefertigte Fortsetzung der klassischen Boy– und Girlbands, dann hat das Genre eine kommerziell gesehen absolut rosige Zukunft. Der Erfolg dieser Ensembles dürfte allerdings sehr zum Nachteil ihrer Mitglieder ausfallen. Die Selbstmordrate unter K–Pop–Acts ist alarmierend.

Über Robbie Williams schreiben Sie ebenfalls in Ihrem Buch. Er trauerte in den sozialen Medien um Liam Payne und teilte seine eigenen Erfahrungen, die er in Paynes Alter machte: «Mit 31 hatte ich immer noch meine Dämonen. Ich wurde rückfällig.» Nach dem Tod von Heath Ledger habe er gedacht, dass er als Nächstes dran sei. Was hat Ihrer Meinung nach dazu beigetragen, dass Williams die Kurve bekommen hat?

Rehm Rozanes und Soethof: Vermutlich war es schlichtweg Glück, ein auffangendes persönliches Umfeld – und sein unbedingter Wille einer anhaltenden, weltweiten Solokarriere. In den USA blieb der Durchbruch aus, während er 2003 in Knebworth mit drei Konzerten in Folge 375.000 Zuschauerinnen und Zuschauer erreichte und mit diesem bis dahin grössten Musikevent in der Geschichte des Vereinigten Königreichs ebendiese schrieb. Anfangs wollte er es seinem Ex–Rivalen Gary Barlow beweisen, danach sich selbst und der britischen Presse. Er war ein Getriebener, der erst und offenbar rechtzeitig Ruhe und Zuversicht fand, als er 2006 Ayda Field kennenlernte. Wirklich und seriös beantworten können diese Frage aber nur Williams selbst sowie seine Therapeutin oder sein Therapeut.

Wenn Boybands ihren Zenit überschritten haben, bleibt oft nur ein einziger Künstler übrig, der eine grosse Solokarriere hinlegt, wie Robbie Williams, Justin Timberlake oder Harry Styles. Woran liegt das?

Rehm Rozanes und Soethof: Das dürfte vor allem an Marktmechanismen liegen. Man will sich eben auf eine Figur konzentrieren, die zum Solostar aufbauen, davon sollen die anderen nicht ablenken. Man hat gesehen, wie sensationell das bei Michael Jackson funktioniert hat und diese Erfolgsformel wird eben ewig wiederholt. Etwas anfängliche Rivalität wie etwa die von Gary Barlow und Robbie Williams nach dem Split von Take That schadet freilich nicht, aber letztlich macht nur einer das Rennen.

Boybands funktionieren vor allem für junges weibliches Publikum, umgekehrt scheinen Girlbands Teenager–Jungs nicht so sehr in ihren Bann zu ziehen. Was hat das für Gründe?

Rehm Rozanes und Soethof: (Prä–)Pubertierende Jungs wollen cool sein und ihren Kumpels gefallen. Das fällt leichter, wenn sie sich zum Beispiel mit Fussballern, Musikern, die die gleiche Kleidung wie sie tragen oder anderen «echten» Typen auskennen. Sie schwärmen untereinander vielleicht von bestimmten Mädchen in ihrem Umfeld, wollen sich aber mutmasslich und wegen der immer noch anhaltenden Sozialisation in bestimmten tradierten männlichen Rollenbildern nicht die Blösse geben, durch Poster oder Konzertbesuche weiblicher Acts eine «weiche» Seite zu zeigen. Die fanden schon damals im Zweifel den coolen Rapper in einer Boyband identifikationsstiftender als irgendeines der Spice Girls, wenngleich sie die ein oder andere davon gewiss «hot» fanden. Nicht umsonst aber wurden die Spice Girls ja übrigens auch als neue Role Models für Mädchen erfunden.

In Ihrem Buch geht es auch um Britpop. Überrascht es Sie, wie gross der Hype um die Oasis–Comeback–Tour ist?

Rehm Rozanes und Soethof: Der Hype ist einerseits grotesk überzogen – schliesslich hatte nach fünf Alben der Band, die heute keiner mehr kennt, kein Hahn mehr nach Oasis gekräht, als die sich 2009 trennten. Andererseits leben wir – und besonders das vom Brexit gebeutelte UK – mittlerweile in einer Welt, die uns permanent einschüchtert und wenig Hoffnung gibt. Da wünscht man sich eben für einen Abend die Wiederherstellung der mittleren 90er–Jahre herbei, eine Zeitreise in die eigene, sichere Jugend, und dagegen ist auch nichts einzuwenden. Da ist nun mal Nostalgie. Oasis liefern mit ihren stets lebensbejahenden Hymnen wie «Live Forever» und «Cigarettes & Alcohol» den perfekten Soundtrack dazu.

Stephan Rehm Rozanes ist Mitglied der Chefredaktion des «Musikexpress» und hat als DJ, Podcast– und Radiomoderator gearbeitet. Fabian Soethof ist Journalist, Autor und Kolumnist. Von 2013 bis 2023 arbeitete er als Online–Redaktionsleiter beim «Musikexpress».

Von SpotOn am 28. Oktober 2024 - 17:45 Uhr