Coronakrise, Ukrainekrieg, Nahostkonflikt: Die Nachrichten sind voll von Krieg und Krisen. Das Smartphone aus der Hand zu legen, fällt vielen Menschen schwer. Sind sie doch immer auf der Suche nach der nächsten Schreckensmeldung oder dem nächsten grauenvollen Video. Das Verhalten nennt sich «Doomscrolling» – ein Kofferwort aus «doom», Englisch für Untergang, und «scrollen» – und beschreibt ein schier endloses Lesen negativer Nachrichten.
Das Phänomen ist unter anderem evolutionär zu begründen, erklärt Prof. Dr. Claudia Paganini, Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie München. Allerdings kann das Verhalten schwere, langfristige Folgen für unsere Psyche haben.
Warum sind wir so «süchtig» nach schlechten Nachrichten?
Prof. Dr. Claudia Paganini: Einerseits ist das evolutionär zu erklären. Der Mensch musste ursprünglich, um zu überleben, fokussiert auf Gefahren sein, diese einschätzen und schnell reagieren können. Deshalb ist unser Gehirn so programmiert, dass es auf negative Botschaften stärker anspricht. Andererseits ist es so, dass Inhalte, die emotional sind, besser verarbeitet werden. Das müssen eigentlich keine negativen Inhalte sein, aber es ist viel schwieriger, positive Inhalte zu generieren und die den Menschen so zu präsentieren wie negative.
Was macht der ständige Strom an negativen Nachrichten bzw. sehr grafischen Fotos oder Videos mit unserer Psyche?
Das hängt weitestgehend von der eigenen psychischen Grundstruktur und dem biografischen Hintergrund ab. Die einen können direkt wieder zur Tagesordnung übergehen, andere erleben möglicherweise eine Retraumatisierung. Eine Person mit einer stabilen psychischen Grundstruktur und ohne krasse Traumatisierungen kann solche Inhalte in der Regel einordnen und sich davon abgrenzen. Dies, in dem sie sich den Informationsgehalt herausholt und sich bewusst macht, dass sie selbst nicht unmittelbar betroffen ist bzw. nicht viel machen kann, um es zu verändern.
Für Menschen, die schon gewisse Themen mitbringen, sensibel auf Gewalt reagieren oder ein entsprechendes dramatisches Erlebnis in ihrer Geschichte haben, kann es massive negative Folgen haben. Sie können retraumatisiert werden, denn Bilder oder Berichte haben eine Triggerfunktion.
Welche langfristigen Auswirkungen kann der exzessive Konsum von schlechten Nachrichten auf unser Verhalten haben?
Es gibt Untersuchungen, die längerfristig einen Zusammenhang mit Depression herstellen oder zum Teil auch Suizidalität. Die Menschen rutschen in eine Art Negativblase hinein und haben den Eindruck, dass die ganze Welt nur aus schrecklichen Ereignissen besteht.
Sich dem Ganzen entziehen zu können, indem man das Handy ausschaltet, ist ein grosses Privileg. Wie kann es gelingen, up to date zu bleiben und gleichzeitig auf die mentale Gesundheit zu achten?
Ich finde es sehr wichtig, selbst Kontextualisierung herzustellen. In den Medien, auf Social Media und in Boulevardmedien ist diese oft nicht gegeben. Man sollte sich möglichst von aufmerksamkeitsheischenden Bildern und Videos lösen, und versuchen, sachliche Informationen zu finden.
Hintergrundinformationen und Texte zu lesen, reduziert die Belastung in der Regel deutlich. Auch qualitativ hochwertigen Diskussionsveranstaltungen, TV-Gesprächen oder -Analysen zuzuhören, ist eine Option. Wenn ich Zusammenhänge verstehe und erkenne, bin ich wieder mehr in dem rationalen Teil meines Gehirns und weniger stark im emotionalen. Das hilft dabei, sich zu distanzieren.
Das bedeutet natürlich nicht, dass man sich abschotten und gegenüber dem Leid anderer Menschen auf der Welt gleichgültig sein soll. Aber eine gewisse Realitätseinordnung sollte man nicht verlieren.
Besonders für junge Menschen sind Instagram, TikTok und Co. eine wichtige Nachrichtenquelle. Wie können Eltern sicherstellen, dass ihre Kinder durch den Medienkonsum nicht zu stark belastet werden?
Eltern sollten das Gespräch mit ihren Kindern suchen. Aber nicht bevormunden und sagen «Schau dir das nicht an» oder «Leg das Handy jetzt weg», sondern einfach mal nachfragen, wie es ihnen mit der Situation geht und in den Austausch gehen. Das kann die Jugendlichen auch aus einer gewissen Isolation herausholen. Das Gefährliche bei der Überflutung an Negativnachrichten ist, dass Jugendliche diese eher in einsamen Situationen konsumieren, etwa spät am Abend im Bett. Dann wirkt sich das natürlich noch negativer aus, weil man mit niemandem darüber reden kann.
Für den exzessiven Konsum negativer Nachrichten gibt es inzwischen sogar einen eigenen Begriff: «Doomscrolling». Was genau versteht man darunter?
«Doomscrolling» bedeutet, dass das Konsumieren von Negativnachrichten nicht mehr in der Form passiert, dass sie gemeinsam mit positiven Nachrichten konsumiert werden, sondern dass man aktiv nach dem Negativen sucht. Dahinter steckt eine gewisse Art Zwanghaftigkeit.
Hat sich das Phänomen erst in den letzten Jahren entwickelt, im Zusammenhang mit den sozialen Medien?
Durch Social Media ist das Ganze sichtbarer geworden. Den Fokus auf negative Nachrichten gibt es aber schon lange. Schon in den 1980er Jahren, als das Fernsehen gerade begonnen hat, sich flächendeckend zu verbreiten, haben Medienwissenschaftler das ritualartige Konsumieren von negativen Fernsehnachrichten in Dauerschleife beschrieben. Die Leute sind von einem zum anderen Sender gesprungen, bis sie die vierte oder fünfte Variante einer negativen Message oder eines schrecklichen Filmausschnitts gesehen haben.
Fotos von zerstörten Häusern, Videos von entführten oder getöteten Menschen: Solche erschreckenden Bilder lassen uns oft nicht los. Wie geht man damit am besten um?
Solche Inhalte haben eine starke Eigendynamik und sprechen ganz tiefe emotionale Regionen im Gehirn an. Unsere eigene Vernunft kann dagegen nicht grossartig viel ausrichten. Was hilft, ist zu versuchen, beim Konsum solcher Bilder zurückhaltend zu sein: ein paar Bilder weniger anschauen und lieber einen Text lesen.
Ist es aber schon passiert, dann muss man versuchen, sich auf andere Gedanken zu bringen und bewusst positive Dinge wahrnehmen. Das Ganze sollte aber nicht erzwungen werden, denn das kann weitere Probleme verursachen. Wenn ich mich zwingen will, an irgendetwas nicht zu denken, ist der Gedanke oft viel präsenter. Kriegt man ein belastendes Bild nicht aus dem Kopf, sollte man den Gedanken kommen lassen und die negativen Emotionen zulassen, und gleichzeitig darauf vertrauen, dass es auch wieder weggehen wird.
Wie sieht ein gesunder Medienkonsum Ihrer Ansicht nach aus – vor allem in Krisenzeiten?
Es ist wichtig, möglichst viel Autonomie zu bewahren und nicht das ganze Leben auf den Kopf zu stellen, wie es teilweise in der Coronazeit häufig geschehen ist. Das bedeutet zum Beispiel ein bis zwei Stunden zu warten, bevor man sich die neuesten Updates durchliest, statt immer der neuesten Information hinterherzujagen.
Zudem sollte man eher qualitativ anspruchsvolle Medien und Informationen konsultieren und sich mit den Hintergründen auseinandersetzen, statt sich plakative Horrormeldungen reinzuziehen, die eigentlich keinen Informationswert haben.
Ausserdem empfehle ich den Austausch mit anderen Menschen. Wenn ein Thema einen nicht loslässt und sehr beschäftigt, kann es helfen, mit anderen Menschen darüber zu reden.