Sie war die berühmteste deutsche Schauspielerin ihrer Zeit. Eine kleine, zierliche Frau mit klugen Augen, die im Zorn ganz besonders geleuchtet haben. Man trat ihr nicht zu nahe, wenn man sagte, dass das Schönste an ihr die Stimme war. Klar und unverwechselbar, ein bisschen brüchig, den Berliner Zungenschlag nicht leugnend und so einprägsam, wenn die Wut wie ein Unwetter über sie kam. Das war offenbar Inge Meysels liebster Aggregatszustand. Empörung, Widerspruch, Attacke. Da spürte man, wie sehr sie das Leben liebte.
Am 10. Juli jährt sich ihr Todestag zum 20. Mal, und man kann jungen Menschen mit der Gnade der späten Geburt nur versichern: Eine wie sie gibt es heute nicht mehr. Nicht schön, sondern keck, nicht anschmiegsam, sondern widerspenstig, nicht besserwisserisch, sondern klug und meinungsstark, nicht einnehmend, sondern warmherzig, zumindest manchmal.
Sie wollte nie «Mutter der Nation» sein
«Mutter der Nation» hat man sie voller Verehrung genannt. Wie hat sie das gehasst! Alles Mögliche wollte sie sein, nur keine Mutter der Nation. Gegen diesen biederen Ehrentitel hat sie ihr Leben lang gekämpft.
Gespielt hat sie – im Theater, im Film, im Fernsehen – alles: Putzfrau, Salondame, Mörderin. Warum ausgerechnet sie als «Mutter der Nation» bezeichnet wurde, kann nur geraten werden. Lag es an ihrer Rolle als Hausmeisterin in der Filmkomödie «Das Fenster zum Flur» (1960)? Oder an der ARD–Serie «Die Unverbesserlichen» (1965–1971), in der sie an der Seite von Joseph Offenbach (1904–1971) die gluckenhafte Hausfrau Käthe Scholz darstellte? Das Fernsehen brachte jeweils am Muttertag eine Folge. Das hat sie mächtig aufgeregt.
Wütend war sie vor allem auf die Presse, die ihr diesen Titel verliehen hatte: «Die Einengung aufs Klischee geschieht eigentlich nie vom Publikum her, sondern immer nur von der Kritik», sagte sie einmal in einem Interview mit «Emma»–Herausgeberin Alice Schwarzer (81). «Wenn man nur mal einen warmen Ton anschlägt, oder einen verzweifelten, oder einen gütigen, oder auch einen bösen, dann verbreitet die Kritik sofort das Schlagwort: Mutter der Nation. Dabei bin ich doch überhaupt kein mütterlicher Typ. Ich bin aggressiv, ich bin jähzornig, ich gehe für jedes Unrecht auf die Palme und komme da schwer wieder runter. Ich bin politisch eine linksorientierte Person, also überhaupt eine kämpferische Natur.»
Einmal hat ihr die Mutterrolle sogar gefallen. 1961 sah man sie in «Schau heimwärts, Engel». Die «Welt» schrieb: «Das war nun ganz gewiss keine Mutter der Nation. Die war böse, egoistisch, Urbild der Puritanerin, die Menschen und Dinge einzig an ihrem materiellen Wert mass. So was spielte die Meysel souverän.»
«Diesen Verlust habe ich nie überwunden»
Im echten Leben war sie keine Mutter, ihre beiden Ehen mit dem Schauspieler Helmuth Rudolph (1900–1971) und dem Regisseur und Drehbuchautor John Olden (1918–1965) blieben kinderlos. 1942 hatte sie eine Frühgeburt, ihr Baby, ein Mädchen, starb im Brutkasten. «Diesen Verlust habe ich nie überwunden», sagte sie später.
«Beisszange mit Herz» hat sie der Kritiker Friedrich Luft (1911–1990) genannt. Das dürfte ihr gefallen haben. Und die «Welt» urteilte über die Schauspielerin Inge Meysel: «Ihre Botschaft war stets die Gleiche: mit rollenden Augen und grosser Klappe propagierte sie das Recht, sein Herz auf der Zunge tragen zu dürfen. Inge Meysel war die Erfinderin der aggressiven Diskussionskultur.»
«Natürlich bin ich eine Kratzbürste», sagte sie über sich selbst, «sonst hätte ich nicht überlebt». Es gab Zeiten, da trug sie stets eine Zyankalikapsel im Portemonnaie bei sich. Für den Fall der Fälle, denn Inge Meysel war die Tochter einer Dänin – und eines jüdischen Tabakgrossisten aus Berlin. Der hatte die Nazizeit nur überlebt, weil er sich im Keller seiner Sekretärin verstecken konnte.
Die Eltern wollten, dass sie Jura studiert, sie wollte Tänzerin werden, war aber mit ihren 1,54 Meter zu klein, also entschied sie sich fürs Theater. Nach der Schauspielschule hatte sie erste Erfolge an den Bühnen von Zwickau und Leipzig, bis 1933 drei Schauspielerkollegen erklärten, sie könnten mit der Halbjüdin Inge Meysel nicht mehr arbeiten: Meysel bekam Auftrittsverbot.
Nach 1945 gehörte sie zum Ensemble des Hamburger Thalia–Theaters. Und 1959 wurde sie mit der Rolle in «Das Fenster zum Flur» bundesweit bekannt, ihre Karriere als «Mutter der Nation» nahm ihren Lauf, was sie wie einen Fluch empfand.
Sie schätzte am meisten ihre Respektlosigkeit
Sie hat alles getan, um davon weg zu kommen. Sie unterstützte 1972 im Wahlkampf aktiv den SPD–Kanzler Willy Brandt (1913–1992). Sie plauderte in «Emma» über ihre lesbischen Erfahrungen: «Ich glaube, dass sehr viele Frauen zuerst aus Enttäuschung durch Männer zu Lesbierinnen werden – dann aber sehr oft merken, dass ihr Zärtlichkeitsbedürfnis durch eine Frau besser ausgefüllt wird.» Sie sagte in einem «Stern»–Interview: «Eigentlich habe ich nur schwule Freunde. Ich verreise zum Beispiel gerne mit Wilhelm Wieben.» Damit war der «Tagesschau»–Sprecher geoutet, was er allerdings vorher auch gestattet hatte.
Andererseits klagte sie gegen den «Stern», weil auf den Titelseiten «Frauen als blosses Sexualobjekt dargestellt werden und dadurch beim männlichen Betrachter der Eindruck erweckt wird, der Mann könne über die Frau beliebig verfügen oder sie beherrschen.»
Dabei schätzte Inge Meysel an sich selbst am meisten ihre Respektlosigkeit: «Bevor einer unverschämt zu mir wird, werde ich unverschämt zu ihm». Sehr gern auch vor Publikum. Johannes B. Kerner (59) sagte sie anlässlich ihres 90. Geburtstags in seiner Sendung, sie finde seine Gesprächsführung «sehr merkwürdig». Thomas Gottschalk (74) verschlug es bei «Wetten, dass..?» die Sprache, als sich die 91–Jährige an ihre Brüste fasste und sagte, «mein Busen ist echt, wie Gott ihn schuf». Dabei funkelte sie die ebenfalls geladenen Damen Ariane Sommer (47) und Nadja Abd el Farrag (59) an.
Und die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes durch den damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens (1914–1992) lehnte sie barsch ab, weil es ihrer Ansicht nach keinen Orden wert sei, dass jemand «sein Leben anständig gelebt hat». Später sagte sie in «Emma», dass es auch ihre Antwort war auf die Diskriminierung ihres Vaters, dem als deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz aberkannt wurde, weil er Jude war.
Auf die Frage nach ihrer liebsten Rolle antwortete sie einmal: "Das war in ‹Der rote Strumpf›. Die Geschichte einer alten Frau, die durchs Leben verrückt und wieder zum Kind geworden ist. Das ist meine beste Rolle in der Darstellung. Weil ich dort wirklich ein Mensch ohne jegliche Mache sein konnte."
In ihrem letzten Lebensjahr litt Inge Meysel an Altersdemenz. Sie starb mit 94 in ihrem Haus an der Elbe bei Hamburg. Im Nachruf schrieb die «Welt»: «Deutschland ist verwaist.»