Weihnachten ist das Familienfest schlechthin. Gerade zum Fest der Liebe kochen aber gerne ungelöste Konflikte hoch und der Familienzoff unterm Christbaum ist vorprogrammiert.
Denn «besonders in der Familie können tief verwurzelte Emotionen aktiviert werden», weiss Psychologin und Bestsellerautorin Stefanie Stahl. Ihr Dauerbrenner «Das Kind in dir muss Heimat finden» ist aus der «Spiegel»–Bestsellerliste kaum mehr wegzudenken. Im Interview mit spot on news erklärt die Expertin, warum es zu Streit beim Weihnachtsessen mit der Familie kommt und gibt Tipps für friedliche Feiertage.
Liebe Frau Stahl, woran liegt es, dass alte Familienkonflikte ausgerechnet zu Weihnachten wieder hochkochen?
Stefanie Stahl: Weihnachten ist ein Fest voller Erwartungen. Die Sehnsucht nach Harmonie und Geborgenheit trifft auf alte, ungelöste Konflikte. Besonders in der Familie können tief verwurzelte Emotionen aktiviert werden, da das «innere Kind» leicht getriggert wird. Vor allem wenn es im Rest des Jahres gar keinen Kontakt gibt und man sich aus «Anstand» an Weihnachten trifft, oder wegen der Enkel... Und plötzlich ist man gezwungen, viel Zeit miteinander zu verbringen, und das häufig auch noch auf sehr engem Raum. Dann noch ein paar Gläser Wein und Bäm! Da kann vieles wieder hochkommen und eskalieren.
Sobald mehrere Generationen aufeinandertreffen, kommen oft alte Verhaltensweisen aus der Kindheit und Jugend zum Vorschein. Woran liegt das?
Stahl: Das Elternhaus ist der Ursprungsort unserer Prägungen. Die Beziehung zu den Eltern ist tief in unserem Unterbewusstsein verankert. Sobald wir in diese Umgebung zurückkehren, fühlt es sich oft an, als würden wir unbewusst in die Rollen aus unserer Kindheit zurückfallen – sei es die des braven Kindes, des Rebellierenden oder des Mediators. Das ist eine automatische Reaktion unseres emotionalen Systems. Um dies zu vermeiden, hilft es, die eigene Rolle in der Familie und auch die eigenen Trigger im Vorfeld zu reflektieren und sich mental zu wappnen.
Wie verhält sich das bei Eltern im Umgang mit ihren erwachsenen Kindern?
Stahl: Eltern bleiben emotional oft in ihrer «Erziehungsrolle». Sie haben über Jahre Verantwortung für ihre Kinder getragen, und es ist nicht leicht, diesen Perspektivenwechsel zu vollziehen. Hinzu kommt, dass viele Eltern unbewusst mit eigenen Ängsten kämpfen, z. B. die Kontrolle zu verlieren oder nicht mehr gebraucht zu werden. Das passiert vor allem häufig, wenn die Kinder weit weg wohnen und man sich selten sieht bzw. spricht.
Welche Rolle spielt dabei das Elternhaus? Könnte ein Ortswechsel ratsam sein?
Stahl: Das Elternhaus ist der Ort, an dem unsere frühesten Erfahrungen gespeichert sind. Dieser Ort kann alte Muster verstärken, da er symbolisch für unsere familiären Bindungen steht. Ein Ortswechsel – z. B. das Feiern in einer neutralen Umgebung – kann helfen, festgefahrene Strukturen aufzubrechen und frischen Wind in die Beziehungen untereinander zu bringen. Warum nicht einfach mal ins Restaurant gehen? Eine traditionelle Sitzordnung wäre dadurch schon mal hinfällig.
Filme zeigen uns Weihnachten oft als das «perfekte Familienfest». Inwiefern kann uns dieses Bild unter Druck setzen und wie macht man sich davon frei?
Stahl: Dieses idealisierte Bild erzeugt unrealistische Erwartungen und den Druck, alles müsse harmonisch und perfekt sein. Um sich davon zu lösen, hilft es, eigene Rituale und Werte zu definieren: Was bedeutet Weihnachten wirklich für mich? Indem man Perfektionismus loslässt, kann man mehr Freude an der Realität finden und auch gut mit kleinen Makeln leben.
Welche Strategien gibt es noch, damit Weihnachten zum friedlichen Fest wird?
Stahl: Erwartungen im Vorfeld klären: Hierdurch kann man unnötige Enttäuschungen vermeiden. Man sollte sich seiner eigenen Bedürfnisse und damit auch Grenzen bewusst sein und diese freundlich und offen kommunizieren.
Mentale Vorbereitung: Man sollte sich vorher überlegen, welche Familienmitglieder einen mit welchen Themen auf die Palme bringen könnten und sich im Vorfeld – möglichst humorvolle und deeskalierende – Antworten und Verhaltensweisen überlegen, damit man gut vorbereitet ist. Die meisten Konflikte entstehen, weil man sie in dem Moment nicht erwartet hat.
Realistische Erwartungen: Der Opa oder die Tante werden keine anderen sein, nur weil Weihnachten ist. Eine zu grosse Erwartung an ein harmonisches Fest kann nach hinten losgehen, weil sie viel Raum für Enttäuschung und Kränkung bietet. Ausserdem führt falsch verstandenes Harmoniestreben dazu, dass man zu weit über die eigenen Grenzen geht, sich zu viel anpasst, um dann am späteren Abend umso lauter zu explodieren.
Konflikte früh beenden: Wenn ein konfliktträchtiges Thema aufkommt, kann man sagen: Das ist ein wichtiges Thema, aber das sollten wir nicht heute besprechen! Wenn die Emotionen schon am Kochen sind, hilft nur eine sofortige Unterbrechung und radikale Ablenkung. Hier helfen Liegestütze, Handyflucht, ein halber Liter kaltes Wasser am Stück trinken. Wenn man sich wieder beruhigt hat, ein Friedensangebot machen.
Und wenn es gar nicht geht? Sollte man das Familienessen aus Pflichtgefühl durchstehen oder kann es auch die bessere Entscheidung sein, einfach abzusagen?
Stahl: Niemand sollte sich verpflichtet fühlen, Weihnachten in einem Umfeld zu verbringen, das belastend ist. Wenn ein Familientreffen Stress oder Streit verursacht, ist es legitim, eine Pause einzulegen. Wichtig ist, dies frühzeitig und respektvoll zu kommunizieren, etwa so: «Ich brauche dieses Jahr Zeit für mich, aber ich freue mich auf ein Treffen nach den Feiertagen.» Das gibt Raum für Verständnis.