Der Kaiser ist tot. Diese Nachricht hat Deutschland selbst in diesen Zeiten, sagen wir es ruhig: tief getroffen. Da erübrigt sich die Frage: Welcher Kaiser? Es gibt nur einen, der den Deutschen in den letzten fünf, sechs Jahrzehnten diesen hochtrabenden Titel ohne ein spöttisches Lächeln wert war: Franz Beckenbauer (1945–2024).
Nun ist er mit 78 Jahren den Gang jedes irdischen Lebens zu Ende gegangen und gestorben. Um ihn trauert ganz Deutschland, auch weil die Menschen spüren, dass mit Franz Beckenbauers Tod eine grosse Ära des Erfolgs und der Einmaligkeit vorüber ist.
Eine sportliche Ausnahmekarriere
Seine sportliche Bilanz ist grandios: Als Spieler wurde er mit dem FC Bayern München viermal Deutscher Meister, viermal DFB–Pokalsieger, dreimal Europapokalsieger der Landesmeister (Vorläufer der Champions League), je einmal Europapokalsieger der Pokalsieger und Weltpokalsieger. Mit Cosmos New York wurde er dreimal US–Meister und mit dem HSV einmal Deutscher Meister. Mit der Nationalmannschaft wurde der Libero Beckenbauer 1966 WM–Zweiter, 1970 WM–Dritter und 1974 Weltmeister.
Als Trainer holte er mit dem FC Bayern 1994 die Deutsche Meisterschaft, 1996 den UEFA–Cup–Sieg und als Coach der Nationalmannschaft 1990 die Weltmeisterschaft.
Für Millionen ist er der «Kaiser»
Wo der Franz war, war oben. Ganz oben am Fussballhorizont, wo die anderen unsterblichen Legenden wie Pelé (1940–2022) oder Johan Cruyff (1947–2016) ihre Throne hatten. Seine unvergleichlich elegante Spielweise machte ihn zum «Kaiser», das ist die eine Version. Die andere erklärte die Autorin Franziska Sperr, ein Münchner Gewächs wie Franz Beckenbauer, so: «Vom Kicker aus dem Glasscherbenviertel zum Grandseigneur. Entspannt trägt er jetzt die Golfjacke, stilsicher das seidene Einstecktuch, die passende Krawatte. Er steht neben der Büste Kaiser Franz Josephs. Auf Augenhöhe, versteht sich. Es heisst, von diesem Foto, das ihn neben dem österreichischen Monarchen zeigt, habe er seinen Spitznamen: der Kaiser.»
Des Kaisers publizistische Entourage, seine «Bild»–Hauszeitung, Fernsehmoderatoren und Interviewer– viele haben voller Demut mitgebastelt an dem Münchner Gesamtkunstwerk, dem die österreichische Post 2006 eine Briefmarke mit dem Porträt Beckenbauers, gemalt von Andy Warhol, widmete: 75 Cent zu Franz' Ehren, bei Kaiser Joseph I. waren es nur zehn Kronen...
Die meisten seiner Lebenszüge hatten auch diesen spielerisch–eleganten Beckenbauer–Charakter. Wo andere schwitzten, rackerten und sich quälten, da zelebrierte er. Mit einem Lächeln und einer unnachahmlichen Lässigkeit. Wenn er seine einfachen, mit Konfuzius–Zitaten garnierten Sprüche zum Besten gab und somit das «Franzeln» erfunden hat, hingen selbst Intellektuelle an seinen Lippen.
Nie um einen guten Spruch verlegen
Sogar über seine Steueraffäre in den 70er–Jahren hat man hinweg gesehen. Der Franz hatte verblüfft gesagt: «Die Steuer – auch mein Problem. Es muss zwar sein, dass man einen Teil seines Einkommens an den Staat abführt. Aber gleich so viel?» 1,8 Millionen Mark musste er nachzahlen. Ein Strafverfahren blieb selbstredend aus.
Auch seine Frauenaffären hat man ihm wie einem Lausbuben verziehen. Drei Ehen, eine langjährige Beziehung, etliche Abenteuer (darunter auf der Weihnachtsfeier des FC Bayern) – doch was soll's. Deutschland hat geschmunzelt, als Beckenbauer sagte: «Ich habe mal einen Stammbaum machen lassen: Die Wurzeln der Beckenbauers liegen in Franken. Das waren lustige Familien, alles uneheliche Kinder. Wir sind dabei geblieben.»
Seine Sprüche waren keine Brüller, dafür lustig und irgendwie nachvollziehbar:
«In einem Jahr hab ich mal 15 Monate durchgespielt.»
«Ja gut, es gibt nur eine Möglichkeit: Sieg, Unentschieden oder Niederlage.»
«Damals hat die halbe Nation hinter dem Fernseher gestanden.»
«Die Schweden sind keine Holländer, das hat man ganz genau gesehen.»
«Der Holländer ist kein Brasilianer.»
Legendär war auch sein Konzept zum Gewinn der WM 1990. Wo andere Trainer an der Seitenlinie einen Veitstanz aufführen und in oft rätselhafte Taktikanweisungen verfallen, gab Beckerbauer seinen Mannen nur vier Worte mit: «Geht‹s raus, spielt›s Fussball!» Dann hat er sich gesagt: «Schau‹n mer mal!» Und siehe da: Es ward ein Triumph – und «Schau›n mer mal!» wurde Kult.
Er war ja nie ein Marktschreier wie andere Kicker. Er war charmant, grosszügig zu den Ex–Frauen und Lebensabschnittgefährtinnen. Er stiftete und spendete, viel mehr im Stillen als in der Öffentlichkeit. Er gründete die Franz–Beckenbauer–Stiftung zur Unterstützung behinderter und bedürftiger Menschen, wurde Botschafter des Kindersozialprojekts Football for Friendship.
Schatten über der Lichtgestalt
Die Vergabe der WM 2006 an Deutschland schien ein weiterer Höhepunkt im Berufsleben des Franz B. zu werden. «Wahrscheinlich ist er so mächtig, dass er sogar Regierungen stürzen könnte», meinte der Wiener Künstler André Heller (76), der künstlerische WM–Berater von 2006. Das war die Zeit, wo er selbst glaubte: «Alle Sonntage der Welt sind in mir vereint.»
Dann geriet der «Vater des deutschen Sommermärchens 2006» in den Schatten. Im Herbst 2015 flogen dubiose Zahlungen rund um die Fussball–WM 2006 auf. Von den Vorwürfen hat er sich nie ganz erholt, obwohl die «Zeit» beobachtet hatte: «Der Kaiser leidet, der Kaiser wankt, aber der Kaiser fällt nicht.»
Das Schlimmste ist ihm 2015 widerfahren: Sein ältester Sohn Stephan starb mit 46 Jahren an einem Hirntumor. Bei seiner Beerdigung hatte man einen gebrochenen Vater gesehen, ein in Trauer erstarrtes Gesicht. Kein Kaiser mehr, sondern ein leidender Mensch.
Auch gesundheitlich ging es ihm in den letzten Jahren immer schlechter. Er wurde zweimal am Herzen operiert, er hatte eine Leisten–OP, bekam ein künstliches Hüftgelenk, er erlitt einen Augen–Infarkt, der ihm die Sehkraft des rechten Auges nahm. Zuletzt wurde er 2022 bei einem Spiel seiner Bayern in der Allianz–Arena gesehen.
Da sass ein abgemagerter älterer Herr mit weissem Menjou–Bärtchen. Sein Lächeln war noch genauso freundlich wie ehedem, nur das Haar etwas schütterer, die Gesichtshaut ein wenig blasser. Er wirkte zierlicher, verletzlicher. Und seine Stimme war brüchiger geworden, etwas höher, wie ältere Herren eben sprechen, wenn sie unweigerlich in die Jahre gekommen sind.
«Ich bedanke mich für das schöne Leben»
Zuletzt hatten sich sein grösster Fan Lothar Matthäus (62) und der ehemalige Trainer Christoph Daum (70), selbst an Lungenkrebs leidend, über den Kaiser grösste Sorgen gemacht. Daum übermittelte ihm den Gruss: «Deine Uhr ist noch nicht abgelaufen. Wir brauchen dich noch.»
Dass dieses spektakuläre Leben so leise endete, hat auch was mit der würdevoll gealterten Lichtgestalt zu tun, die erkannte, wie menschlich ein Leben im Schatten sein kann. Er bete jetzt regelmässig, sagte er 2020 der «Bild» anlässlich seines 75. Geburtstages: «Ich bedanke mich für das schöne Leben, das ich führen durfte. Da ist es schon angebracht, sich jeden Tag zu bedanken.»
Das Alter habe ihn zum ersten Mal «in meinem Leben ein bisschen nachdenklich» gemacht, verriet er dem Mitglieder–Magazin des FC Bayern München. Er denke, das gehöre zum Leben, «dass man zwangsläufig mal an den Punkt kommt, an dem man darüber nachdenkt, dass das Leben endlich ist: Wann ist es so weit, dass du entschwindest? Und in welche Sphären? Das Weltall da draussen ist gross genug, es gäbe jedenfalls genug Möglichkeiten, wohin es einen verschlagen könnte.»
Schau'n mer mal? Und wieder mal hat er es gesehen.