Als «Knives Out - Mord ist Familiensache» Anfang 2020 seinen Weg ins deutsche Kino fand, waren sich Publikum und Kritiker ausnahmsweise einig: Regisseur Rian Johnson (49) ist es mit seinem Whodunit-Krimi gelungen, den Geist von Agatha Christie (1890-1976) auf clevere Weise in die Moderne zu verfrachten. Netflix machte sogleich Nägel mit Köpfen: Der Streaminganbieter orderte zwei hauseigene Fortsetzungen des Streifens, beförderte Hauptdarsteller Daniel Craig (54) zum Topverdiener Hollywoods und spendierte dem 007 a.D. in Form von Meisterdetektiv Benoit Blanc auch noch die nächste Franchise-Rolle mit Kultpotenzial.
Das erste dieser beiden Sequels, das bereits für kurze Zeit im Kino zu sehen war, startet ab dem 23. Dezember bei Netflix und hört auf den Namen «Glass Onion: A Knives Out Mystery». Auf den Überraschungsmoment des Erstlings konnte sich Johnson darin nicht mehr verlassen. Ein noch wagemutigerer Kniff musste folglich her, damit sich die Zuschauerinnen und Zuschauer einmal mehr in ihren Gehirnwindungen verlaufen. Ob dies dem Filmemacher ähnlich befriedigend wie in Teil eins gelungen ist, dürfte Krimifans dieselbe Gewissensfrage abverlangen, die Johnson schon 2017 den «Star Wars»-Anhängern mit «Die letzten Jedi» gestellt hatte.
Mehrere Morde, viele Verdächtige und die Mona Lisa - darum geht es
Benoit Blanc (Craig) scharrt mit den Hufen. Seit dem spektakulären Fall des ermordeten Krimiautors Harlan Thrombey (Christopher Plummer, 1929-2021) vor einigen Jahren wartet der Meisterdetektiv auf die nächste Herausforderung für seinen brillanten Geist. Als eines Tages eine Frau mit einer dubiosen Box vor seiner Tür steht, scheinen seine Gebete erhört worden zu sein.
Besagte Rätselbox enthält - wenn korrekt gelöst - eine Einladung des Tech-Milliardärs Miles Bron (Edward Norton, 53) auf dessen Privatinsel. Das grösste Mysterium für Blanc scheint jedoch zu lauten, warum er überhaupt als Gast des Visionärs auserkoren wurde: Während alle anderen Empfänger einer der Boxen Wegbegleiter von Bron sind, haben sich jene der beiden Männer bislang noch nie gekreuzt. Die Verwirrung ist perfekt, als auch der Gastgeber keinen blassen Schimmer hat, warum Blanc plötzlich vor seiner stinkreichen Nase am Traumstrand steht. Als einige ausgelassene Stunden später die erste Leiche vor der Partygruppe liegt, wird sein Verbleib dafür umso mehr geschätzt.
Mord mit inszenatorischen Hindernissen
Nicht Blanc heftet sich in «Glass Onion» an die Fersen eines Mordfalls, das Gegenteil ist augenscheinlich der Fall. Im Laufe des Films wird aber nicht nur Blancs Anwesenheit auf der Insel erklärt, sondern durch einen radikalen Kurswechsel zu einer neuen Betrachtungsweise des bereits Gezeigten gebeten. So organisch wie in «Knives Out» fügt sich diese Revision der Indizien aber nicht in den Mordfall ein. Stattdessen fühlt sich manch ein Zuschauer wohl zu arg von Johnson an der Nase herumgeführt, weil dieser durch gewählte Schnitte und Zeitsprünge zunächst sehr bewusst mit Informationen zum Fall zurückgehalten hat. Im Grunde sorgt zu Beginn nicht der Fall selbst für die grössten Fragezeichen, sondern lediglich dessen Inszenierung.
Immerhin: Der Filmemacher findet auch einen inhaltlichen Grund, warum seine Hauptfigur zunächst nicht mit offenen Karten spielt. Nur so viel sei gesagt: Das Publikum befindet sich diesbezüglich bis etwa zur Hälfte des Films auf dem Wissensstand der anderen Partygäste und wird erst per Rückblende von Blanc ins Boot geholt. Bis dahin labt sich Johnson ganz unverhohlen an einigen Klassikern: «Eine Leiche zum Dessert», «Das Böse unter der Sonne» und einmal mehr «Mord im Orient-Express» bekommen ihre jeweilige Hommage spendiert. Ein starker Meta-Moment: Just als einem an einer Stelle von Blancs Ermittlungsmethode die Spielregeln von «Cluedo» in den Sinn kommen, zitiert auch der Film aus dem Krimibrettspiel und ertappt sein Publikum auf frischer Tat.
Ensemble-Cast mit Spass am Schauspiel
Vor Spielfreude sprüht wieder Daniel Craig als kokettierender Detektiv mit dickem Südstaatenakzent. Wie schon in «Knives Out» bekommt er einen weiblichen Sidekick spendiert. Dieses Mal ist es Janelle Monáe (37) anstelle von Ana de Armas (34), mit der er den Fall - gleich der titelgebenden «Glaszwiebel» - Schicht um Schicht löst. Auch Monáe macht ihren Job sehr gut, an die charmante Chemie, die noch zwischen Craig und de Armas herrschte, reicht das neue Duo jedoch nicht heran.
Ganz so epochal wie in «Knives Out» mag auch im Allgemeinen der Cast von «Glass Onion» nicht wirken. In Anbetracht von Kate Hudson (43), Dave Bautista (53), Leslie Odom Jr. (41) und dem bereits erwähnten Edward Norton ist das jedoch Jammern auf höchstem Niveau. Speziell ihm und Hudson ist die Spielfreude deutlich anzumerken: Sie mimt das naiv-dumme Ex-Starlett, er den pseudo-intellektuellen Technik-Visionär, der sich mal eben die echte Mona Lisa in die Lounge hängt. Stramme Seitenhiebe gegen reale Vorbilder wie Elon Musk und Steve Jobs sind unübersehbar.
Die (spoilerfreie) Auflösung des Falls
Bekanntlich kann in vielen Bereichen der Weg das Ziel sein. Bei Kriminalgeschichten ist das jedoch ein schmaler Grat. Wirkt die Auflösung zu plump oder zu unglaubwürdig, vermag der gewählte Zielort sehr wohl die erzählerische Reise dorthin zu vermasseln. Bei «Glass Onion» mehren sich mit voranschreitender Laufzeit die glücklichen Zufälle und Wendungen, die nicht mehr so einfach wie im Vorgänger zu schlucken sind. Auch der Weg hält folglich schon den einen oder anderen Stolperstein parat.
Aus zweierlei Gründen bietet jedoch vornehmlich das Finale von «Glass Onion» Angriffsfläche: Es ist im Vergleich zum ohnehin überstilisierten Film noch eine Schippe greller als der Rest inszeniert, beinahe wie eine Farce. Gleichzeitig ist die Auflösung des Falls zwar grundsätzlich innovativ, aber auch nicht sonderlich spektakulär. Ausgerechnet bei Rian Johnson hatte ein derartiger Kniff unlängst schon einen Namen: «subvert expectations», also das Manöver, bewusst die Erwartungen des Publikums zu Gunsten eines Überraschungseffekts zu untergraben.
Bei «Star Wars: Die letzten Jedi» sorgte Johnson mit dieser Herangehensweise dafür, dass sich seither ein tiefer Graben durchs Fanlager zieht. Die eine Seite liebte den Paradigmenwechsel, die andere verabscheute ihn. Nun steht «Knives Out» im Vergleich zu «Star Wars» selbstredend noch in den Franchise-Kinderschuhen. Doch auch jetzt schon werden einige Fans des Erstlingswerks die Sorge hegen, dass Benoit Blanc aka Daniel Craig unter Umständen 2020 seinen besten Fall als erstes gelöst hat.
Fazit:
Durch den immensen Erfolg von «Knives Out» setzte sich Regisseur und Drehbuchautor Rian Johnson für den Nachfolger «Glass Onion» selbst das Messer an die Kehle. Ganz vermochte er darin die Raffinesse des Vorgängers nicht zu reproduzieren, dafür ist ausgerechnet die finale Schicht der «Glaszwiebel» zu dünn geraten. Im positiven Sinn treibt die infantile Spielfreude des gesamten Casts und vor allem jene von Daniel Craig und Edward Norton die Tränen in die Augen - ganz ohne Zwiebel.