Seit Anfang März steht fest, dass die Dark-Rock-Band Lord Of The Lost aus Hamburg für Deutschland zum Eurovision Song Contest nach Liverpool fahren wird. Sänger und Frontmann Chris Harms (43) verrät im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news, warum die Band nicht an den Erfolg im Vorentscheid geglaubt hat, wie sie sich nun auf das ESC-Finale am 13. Mai vorbereitet und welchen persönlichen Bezug er zu dem Musikevent hat.
Sie haben den ESC-Vorentscheid gewonnen. Haben Sie das mittlerweile realisiert?
Chris Harms: So langsam haben wir verstanden, was da so auf uns zukommt. Da wir ohnehin fest damit gerechnet haben, nicht weiterzukommen, haben wir uns mit dem Gedanken an das ESC-Finale im Vorfeld gar nicht wirklich auseinandergesetzt. Umso grösser ist jetzt natürlich die Freude, weil es wirklich überraschend kam. Wir waren in vielen Vor-Umfragen zwar als Favorit gesetzt, aber das haben wir nicht ernst genommen, da alle messbaren Werte und Zahlen von Ikke Hüftgold gegen ein Weiterkommen von LOTL sprachen. Normalerweise bin ich absolut kein Freund von Überraschungen, aber in diesem Fall ist das etwas anders. Wir sind überglücklich, diese Möglichkeit zu bekommen!
Wie nervös waren Sie vor dem Auftritt?
Harms: «Nervös» ist vielleicht das falsche Wort. Ich war eher besorgt. Als Tontechniker und generell sehr technikinteressierter Mensch weiss ich leider auch zu viel über all die kleinen Dinge, die theoretisch schiefgehen können und das beschäftigt mich dann. Allen voran können technische Fehler die eigene Monitoring-Situation beeinflussen, das heisst, es kann das negativ beeinflussen, was ich über meine Kopfhörer höre. Und das wiederum kann dann zur Folge haben, dass man scheisse singt, weil man sich nicht gut hört. Und kein Fernsehzuschauer wird das je wissen oder verstehen, man ist dann unter Umständen einfach ein Versager. Das will ja eigentlich niemand gerne sein.
Wer war Ihr Favorit und warum?
Harms: Als Songwriter und Produzent habe ich zum Glück die Offenheit, jedem Act etwas abgewinnen zu können. Und dass alle Acts hart für diese Teilnahme gearbeitet haben und den gleichen Respekt verdienen, steht eh ausser Frage. Wenn ich aber rein geschmacklich bewerte, dann war Anica Russo meine Favoritin. Einfach weil ihr Genre, ihr Song und ihre Stimme am meisten dem entspricht, was ich auch gern privat höre. Und ich höre ihre Songs seit dem Vorentscheid tatsächlich täglich.
Sie haben den Sieg vor allem dem Publikum zu verdanken. Wie dankbar sind Sie Ihren Fans?
Harms: Ich wehre mich nach wie vor, von einem Sieg zu sprechen. Denn wo Sieger sind, sind auch Verlierer. Und keiner der anderen hat in meinen Augen verloren. Die anderen haben nur eben weniger Stimmen bekommen und sind nicht weitergekommen. Abgesehen davon haben wir dieses Weiterkommen unterm Strich ausschliesslich unseren Fans zu verdanken. Genauso wie unser Nummer-1-Album Anfang des Jahres. Wenn wir hier von einem Sieg sprechen wollen, dann ist es der Sieg unserer Fans. Das ist eine Dankbarkeit, die man nicht mit der Angabe irgendwelcher Parameter beschreiben kann.
Eine Dark-Rock-Band beim ESC ist auf jeden Fall mal etwas Besonderes. Glauben Sie, die Menschen haben genug vom Pop oder Schlager?
Harms: Wer sind «die Menschen»? Sicherlich haben nicht alle genug von Pop oder Schlager, aber 40 Prozent der Menschen, die gewählt haben, wünschen sich für dieses Jahr nun mal etwas Ausgefalleneres, als die anderen Acts, die, und das sage ich mit allem nötigen Respekt, eher in die Genres fallen, die Deutschland die letzten Jahre zum ESC geschickt hat.
Hatten Sie zuvor überhaupt irgendeinen Bezug zum ESC?
Harms: Seit meiner Kindheit gehörte der Grand Prix zu einem der jährlichen Fernseh-Events. Und da ich bereits Musik mache, seit ich fünf Jahre alt bin, wird mit der Teilnahme am ESC ein grosser Kindheitstraum wahr!
Wie werden Sie sich auf den ESC in Liverpool vorbereiten? Schauen Sie sich vielleicht Auftritte aus den vergangenen Jahren an? Oder werden Sie sich Ihre Konkurrenz genauer ansehen?
Harms: Ich werde mir alle Teilnehmer dieses Jahres ansehen und anhören, und dazu ein Reaction-Video meines ersten Eindrucks machen, weil es eine Frage des Respekts ist, mich mit meinen Kollegen im Vorfeld zu beschäftigen. Ich werde aber nicht analysieren, was wer wie in den letzten Jahren oder dieses Jahr an Showelementen bietet. LOTL sind so, wie LOTL sind, und wir werden unser Ding machen, so unverbogen und authentisch, wie wir sind. Daran kann und sollte kein anderer Künstler etwas ändern, indem wir uns einreden, wir müssten uns irgendwie anpassen oder krampfhaft irgendwo mithalten. Ich bin davon überzeugt, dass nur Authentizität einen Artist glaubhaft macht und dass das Publikum zum Grossteil ein unterbewusstes und feines Gespür dafür hat.
Wie finden Sie die Entscheidung, dass der ESC nicht in der Ukraine stattfinden wird?
Harms: Es sollte eigentlich ausser Frage stehen, ob man ein Event dieser Art in einem Land veranstaltet, das aktiv unter Beschuss steht, oder nicht. Ich finde diese Entscheidung logisch und vernünftig.
Was verbinden Sie mit Liverpool?
Harms: Nichts direkt. Aber vieles indirekt. 1960 kamen fünf junge Männer aus Liverpool nach Hamburg St. Pauli. Drei von Ihnen, und ein vierter, den sie auf St. Pauli kennenlernten, wurden dann als Beatles weltberühmt. Dieses Jahr fahren ein paar Jungs aus St. Pauli nach Liverpool. Das ist ein völlig unwichtiger, aber dennoch sehr schöner Zufall.
Sie waren mit Iron Maiden schon auf Tour. Glauben Sie, dass Ihnen die internationale Bühnenerfahrung hilft?
Harms: Wir haben bereits seit über zehn Jahren internationale Bühnenerfahrung und kannten auch vor Iron Maiden bereits grosse Bühnen und Festivals. Aber natürlich hat diese Tour mit Maiden enorm viel mit uns gemacht und uns ein gutes Rückgrat gegeben, um in grossen Produktionen theoretisch aufkommenden Zeitstress zu bewältigen. Mal abgesehen davon, dass diese Tour ein grosses Highlight unserer Karriere war!
Welche Platzierung wollen Sie mindestens beim ESC erreichen?
Harms: Mindestens Letzter ist ein sehr realistisches Ziel.
Was würden Sie im Falle eines Siegs tun?
Harms: Ich erlaube mir nicht, an sowas zu denken, es fühlt sich masslos und zu wenig bescheiden an.