2017 deckten die «New York Times»-Journalistinnen Jodi Kantor und Megan Twohey auf, dass der Hollywood-Filmproduzent Harvey Weinstein jahrzehntelang seine Macht missbraucht hatte, um Frauen in der Branche sexuell zu nötigen. Aus der Entstehung dieses Artikels ist nun ein Film geworden: «She Said», das erste Hollywood-Projekt von Maria Schrader (57), erzählt von den Anfängen der #MeToo-Bewegung und der Macht des investigativen Journalismus. Im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news spricht die Regisseurin darüber, was sich seit 2017 in Hollywood verändert hat und in welchen Szenen es bei den Dreharbeiten emotional wurde.
Es ist fünf Jahre her, dass der «New York Times»-Artikel, dessen Entstehung Ihr Film nacherzählt, erschienen ist. Wie haben Sie das damals miterlebt, waren Sie überrascht?
Maria Schrader: Ich war schockiert über das Ausmass und die Details, es hat mich aber nicht vollkommen überrascht. Ich habe mich zunächst gefragt: Wird das irgendjemanden wirklich interessieren? Ich kann mich gut an die ersten Wochen erinnern, als die zahllosen Stimmen laut wurden. Das hat mich sehr beeinflusst, das waren sehr intensive Wochen. Man hatte das Gefühl, es öffnen sich Türen und Fenster und es findet eine Art «Durchzug» statt.
Die Anschuldigungen gegen Harvey Weinstein sind sicher nur die Spitze des Eisbergs. Inzwischen hat man das Gefühl, die #MeToo-Bewegung ist wieder etwas eingeschlafen. Meinen Sie, da schlummert noch etwas?
Schrader: Ja. Für jede Geschichte, die öffentlich wird, gibt es eine weitaus grössere Zahl an sexuellen Verbrechen, von denen niemand weiss und vielleicht auch nie erfahren wird. Ich wünsche mir, dass der Film Mut macht, genau diese Fragen stellt und die Konversation neu anregt.
Haben Sie selbst in Ihrer Karriere Machtmissbrauch erlebt?
Schrader: Ja.
Beeinflussen Ihre Erfahrungen die Art und Weise, wie Sie in Ihrer Position als Regisseurin mit Schauspielerinnen und Schauspielern umgehen?
Schrader: Machtmissbrauch muss nicht unbedingt sexuell sein, und Frauen können ihn ebenso wie Männer ausüben. Ich habe damals schon reflektiert, ob ich mich in meiner Position als Regisseurin vielleicht auch mal falsch verhalten habe. Der Umgang mit den Menschen am Set ist seitdem sicherlich bewusster geworden, besonders körperliche Berührungen. Ich habe aber nicht das Gefühl, mein Verhalten grundsätzlich ändern zu müssen, mir war es schon immer wichtig, sich als Team auf Augenhöhe und mit Respekt zu begegnen und gegenseitig auch über Unsicherheiten sprechen zu können.
Denken Sie, es hat sich seit 2017 generell in Hollywood etwas verändert?
Schrader: Auf jeden Fall. Ich als Regisseurin musste zum Beispiel ein Papier mit Verhaltensregeln unterschreiben. Es wird eine viel grössere Aufmerksamkeit auf Diversifizierung gelegt, es gibt unabhängige Stellen, an die man sich wenden kann, bei intimen Szenen gibt es «Intimacy Coaches», deren Anwesenheit die Schauspielerinnen und Schauspieler unterstützt und schützt. Man merkt, dass es eine grosse Selbstreflexion gibt und Stimmen sicher nicht mehr leicht vom Tisch gewischt werden können.
In «She Said» bekommt das Publikum kein einziges Mal das Gesicht von Harvey Weinstein zu sehen, man hört nur seine Stimme und sieht ihn einmal von hinten. Ein stilistisches Mittel oder gab es keinen Schauspieler, der ihn verkörpern wollte?
Schrader: Einen Schauspieler hatten wir natürlich, der auch die Stimme und Körperlichkeit des echten Weinstein sehr genau kopieren konnte. Es war natürlich eine bewusste Entscheidung, wann wir ihn sehen und was wir von ihm sehen. Der Film erzählt aus der Perspektive der beiden Reporterinnen, von denen nur eine ihn physisch zu Gesicht bekommen hat. In dieser Szene fand ich es viel interessanter und konsequenter, sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren, statt auf seins. Harvey Weinstein war im Zuge der Veröffentlichung dieses Artikels fast zu einer Symbolfigur von männlichem Machtmissbrauch geworden. Es erschien mir richtig, ihn eher anonym zu belassen, anstatt ihm eine Grossaufnahme zu geben.
Der Film bietet zahlreiche Gänsehautmomente. Gab es eine Szene, die auf emotionaler Ebene besonders schwierig zu drehen war?
Schrader: Die Erzählungen der Zeuginnen. Das sind die Szenen, die mir besonders am Herzen lagen. Sie haben eine grosse Intensität und Emotionalität. Wir hatten alle Respekt davor, dass das wahre Geschichten sind. Zoe Kazan, die sich in ihrer Rolle als Jodi Kantor mit mehreren Zeuginnen trifft und sich auch als Schauspielerin deren Erzählungen einen ganzen Tag lang immer wieder anhören musste, hat darauf sehr emotional reagiert.
In Ihrem Film spielt auch das Privatleben der beiden Journalistinnen eine grosse Rolle. Man erfährt etwa von der postnatalen Depression von Megan Twohey. Warum war es Ihnen wichtig, so viele private Aspekte in die Erzählung einzubauen?
Schrader: Es ist natürlich toll, zwei so toughe weibliche Protagonistinnen in einem Journalisten-Thriller zu haben. Andererseits finde ich es wichtig, sie als normale Menschen zu erleben, die von plötzlicher Depression ereilt werden, die die U-Bahn nehmen, die Zweifel haben, und manchmal schlaflose Nächte. Es waren nur sehr wenige Frauen, die es gemeinsam geschafft haben, diesen Artikel zu veröffentlichen und damit die Welt zu verändern. Sie hatten Mut, Ausdauer, Vertrauen, aber sie hatten keine Superkräfte. Sie waren normale Menschen wie wir, und das finde ich inspirierend. Gleichzeitig glaube ich, dass das Thema, das sie behandelt haben, unweigerlich auch ins Privatleben überschwappt.