Marius Müller–Westernhagen (75) hat viele Fans, doch nicht alle lieben denselben Mann. Viele sehnen sich in die frühen Achtziger zurück, als ihre Marius–Welt noch in Ordnung war und der coole dürre Hering zu bluesigem Rock‹n›Roll originelle und provokante Proletarier–Geschichten in sein Mikrofon kreischte. Andere haben den Sänger als grossen Stadionrocker im edlen Zwirn lieben gelernt, der mit Feuerzeug–Hymnen wie «Freiheit» oder schnörkellosen Mitgröhl–Songs wie «Sexy» oder «Willenlos» sein Publikum in Wallung versetzt. Nicht wenige werden mit dem introvertierten Spätwerk Westernhagens fremdeln, in dem er, mit Cowboyhut auf dem Kopf, den Weg zurück zu seinen künstlerischen Wurzeln sucht.
Die zahlreichen Umbrüche, Imagewandel und Kehrtwenden, die Marius Müller–Westernhagen in seiner Karriere hingelegt hat, machen es nicht leicht, sich an dem Mann festzuhalten und zu seinem 75. Ehrentag am 6. Dezember bedingungslos die Arme um ihn zu schlingen. Im Rückblick wird deutlich, dass er in verschiedene Phasen seiner Karriere wie in eine Rolle hinein sprang, die er dann nach einer Weile einfach wieder ablegte.
Eine Musik–Karriere voller loser Enden
Selbst der Pressetext zu seinem aktuellen Jubiläums–Album «Westernhagen 75 (75 Songs: 1974 – 2023)» kann darüber nicht hinwegsehen und spricht von einem Versuch, «noch einmal alle losen Enden dieser einmaligen deutschen Karriere» zusammenbringen: die «zarte Individualität des Frühwerks, die ungehobelte Rock‹n›Roll–Aufsässigkeit des Pfefferminz–Prinzen, die neugierige Experimentierfreude der mittleren Achtziger, die grosse Geste seiner Megastar–Phase, die Hingabe und Musikalität der vergangenen Jahre».
Diese Tendenz zu losen Enden lässt sich nicht nur in seiner musikalischen Entwicklung erkennen. Noch bevor er als Sänger durchstartete, hatte er bereits eine vielversprechende Schauspieler–Karriere hinter sich gebracht, die er nach den ersten musikalischen Erfolgen im Jahr 1987 eiskalt an den Nagel hängte.
Selbstinszenierung als Working–Class–Hero
Beide Karrieren sind auf eine interessante Weise dabei untrennbar miteinander verbunden: Den grossen Durchbruch als Schauspieler hatte Westernhagen 1977 mit der Action–Komödie «Aufforderung zum Tanz», in dem er den sympathischen Ruhrpott–Hallodri Theo Gromberg verkörperte, der sich mit Vorliebe an Theken, auf Pferderennbahnen oder in den Armen schöner Frauen herumtreibt.
In einem ikonischen Outfit aus Jeans, Lederjacke und Tigerzahn–Kette spielte er sich mit proletarischer Coolness in die Herzen des Publikums. Nach dem Erfolg des ersten Films bekam die beliebte Theo–Figur 1980 in dem Roadmovie «Theo gegen den Rest der Welt» eine Fortsetzung, die ein riesiger Erfolg an den Kino–Kassen wurde.
Diesen Ruhm nutzte Westernhagen, um seiner zuvor unentschlossen vor sich hin dümpelnden musikalischen Karriere neuen Schwung zu verleihen. Er sattelte von launigen Beat–Schlagern auf härteren Blues und Rock‹n›Roll um und brachte 1978 sein legendäres Album «Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz» heraus, 1980 gefolgt von «Sekt oder Selters».
Auf diesen beiden Platten setzt sich die kernige Theo–Figur fast nahtlos fort. Auf dem «Pfefferminz»–Cover sieht man ihn in identischem Rebellen–Dress mit Whisky–Flasche in der Hand in einer Kneipe herumstehen, umgeben von all den halbseidenen Charakteren, die er in seinen Songs besingt. Auf dem anderen sitzt er mit Feinripp–Unterhemd und Zigarette im Mundwinkel bei einem Schnaps an einem trostlosen Frühstückstisch. Auch die Texte der Songs sind auf die bereits in den Filmen etablierte schmuddelige Theo–Welt zugeschnitten und drehen sich um Rennbahn–Junkies, Zuhälter, mütterliche Prostituierte, Provinz–Mafiosi oder dem Alkohol verfallene Malochertypen ohne Illusionen.
Ironischerweise gilt vor allem diese von fast schon grotesker Selbstinszenierung geprägte Schaffensphase bei seinen Fans der ersten Stunde als seine «authentischste». Dass er seinerzeit vor allem eine Rolle verkörperte, gab der Sänger in einer Interview–Session zu seinem Jubiläumsalbum unumwunden zu. Dort sagte er: «Ich hab's dann ausgenutzt. Und das kam, weil ich in diesem Milieu gedreht hab, weil ich dieses Milieu kennengelernt hab. Ich wuchs ja in Düsseldorf auf. Bevor ich den Theo gespielt hab, war ich nie in meinem Leben in Herne. Absolut nicht. Ich hatte vorher auch keinen LKW gefahren.» Das auf den frühen Hit–Alben besungene Working–Class–Leben habe er selbstverständlich nie selbst geführt. Sobald er auf eine Bühne gehe, stelle er «natürlich eine Rolle dar» und werde zu einer riesigen Projektionsfläche für die Leute.
Als «Westernhagen» zum Mega–Star der Neunziger
Ende der Achtzigerjahre stieg Marius Müller–Westernhagen demonstrativ aus der vorherigen Rolle aus und sprang nach ein paar zeittypischen Drumcomputer– und Synthesizer–Experimenten in seine nächste grosse Rolle hinein. Nachdem er 1987 seinen Namen auf das Markenzeichen «Westernhagen» reduziert hatte, zog er alle Register, um Deutschlands grösster Rockstar zu werden und immer grössere Hallen und Stadien zu füllen.
Mit diesem gigantomanischen und musikalisch kommerzielleren Programm verschreckte der «neue Westernhagen» nicht nur viele seiner alten Fans, sondern am Ende offenbar auch sich selber: Nachdem er 1998 auf einer weiteren Tournee der Superlative sein neues Platinalbum «Radio Maria» aufgeführt hatte, zog er urplötzlich die Reissleine, verkündete, in Zukunft keine Stadionkonzerte mehr spielen zu wollen und begab sich in eine längere kreative Auszeit.
In einem Interview mit dem Musik–Portal «MOPOP» erklärte Westernhagen diesen radikalen Schritt folgendermassen: «Ich kam damit nicht zurecht. Ich konnte meinen eigenen Namen nicht mehr hören. Ich konnte kein Fernsehen oder Radio anmachen, ohne dass ich da auftauchte oder über mich geredet wurde. Ich wollte die Scheisse nicht mehr. Die Verpackung wurde immer wichtiger, die Inhalte immer weniger.» Im «Spiegel» räsonierte der Musiker über diese Zeit: «Es ging ja schon so, dass Mütter mir ihre Kinder auf die Bühne hochreichten. Das war eine Rolle, die ich nicht ausfüllen konnte. Ich musste erst mal reflektieren: Was passiert hier eigentlich gerade mit dir?»
Das Spätwerk: Der echteste Marius aller Zeiten?
Seit der Jahrtausendwende können wir Westernhagen in seiner vermutlich authentischsten Rolle bewundern: Die eines Musikers, der sich und seinem Publikum nichts mehr beweisen muss und sich unabhängig von grossen Plattenlabels noch einmal auf seine musikalischen Ursprünge besinnen kann. Wie etwa auf seinem 2009 erschienenen Album «Williamsburg», das er in New York mit namhaften amerikanischen Folk– und Blues–Musikern aufnahm oder mit der bluesigen Neuinterpretation seines legendärsten Albums in seinem «Pfefferminz–Experiment».
«Der Ehrgeiz, Erfolg zu haben und Beachtung zu finden, ist bei mir nicht vorhanden», so Westernhagen über sein neues Dasein als Ex–Superstar. «Mir ist auch vollkommen egal, was Menschen über mich reden, denn die meisten kennen mich nicht. Aber der Ehrgeiz, gute und wertvolle Platten zu machen, die in Menschen etwas auslösen, der ist ungebrochen und sogar noch grösser als in meinen jungen Jahren.»