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Ab dem 23. November im Kino

«Napoleon»: Joaquin Phoenix rammelt durch die Weltgeschichte

Joaquin Phoenix will als Feldherr Napoleon Bonaparte und unter der Regie von Ridley Scott die Leinwand erobern. Er tut dies bildgewaltig, aber nicht frei von strategischen Fehlern.

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Joaquin Phoenix gibt auch als Napoleon Bonaparte wieder alles.
Joaquin Phoenix gibt auch als Napoleon Bonaparte wieder alles. Sony Pictures/Apple Original Films

Unter dem Napoleon–Komplex versteht man den Versuch, die als zu gering empfundene Körpergrösse mit konfrontativem Verhalten und Statussymbolen zu kompensieren. Nicht jeder Person der Menschheitsgeschichte wird die zweifelhafte Ehre zuteil, dass ein psychologisches Manko nach ihr benannt wird.

Auch 200 Jahre nach seinem Tod scheint die Mythenbildung, an der Napoleon Bonaparte (1769–1821) zeit seines Lebens selbst fleissig tüftelte, noch nicht abgeschlossen zu sein. Doch mit dem gemeinsamen Film «Napoleon» (Kinostart: 23. November) errichten ihm Regisseur Ridley Scott (85) und Hauptdarsteller Joaquin Phoenix (49) nicht etwa ein cineastisches Denkmal. Weit mehr als die strategischen Stärken stehen die menschlichen Schwächen der Titelfigur im Zentrum der Handlung.

Zweifrontenkrieg – darum geht es

Durch seine ebenso raffinierte wie skrupellose Herangehensweise steigt Napoleon Bonaparte (Phoenix) binnen kürzester Zeit vom Heerführer zum französischen Kaiser auf. Abseits des Schlachtfelds interessiert den launenhaften Mann hingegen nur eines: die hübsche und selbstbewusste Joséphine de Beauharnais (Vanessa Kirby, 35).

Mit seiner einzig wahren Liebe, die an seiner Seite zur Kaiserin wird, verbindet Napoleon eine ebenso leidenschaftliche wie zerstörerische Beziehung. Affären, Machtdemonstrationen und das zunehmend hoffnungslosere Warten auf einen männlichen Nachfahren – führt das strategische Genie womöglich an gleich zwei Fronten einen aussichtslosen Kampf?

Ein Mann, zwei Rollen

Mit «Joker» (2019) bahnte sich Phoenix als die von Minderwertigkeitskomplexen gebeutelte Titelfigur den Weg zum Hauptdarsteller–Oscar. In «Napoleon» scheint er dieses Husarenstück wiederholen zu wollen, jedoch mit einem entscheidenden Unterschied: Als Comic–Figur vollzog er den Wandel von der jämmerlichen, aber noch menschlichen Trauergestalt hin zum selbstbewussten Scheusal. In «Napoleon» spielt er beide Enden dieses Spektrums simultan.

«Ich bin der Erste, der es zugibt, wenn er einen Fehler macht. Aber ich mache einfach keine.» Mit dieser Haltung präsentiert sich Napoleon in der Öffentlichkeit. Das durchaus überzeugend, da ihm der Erfolg zunächst stets recht gibt. Selbstredend hilft es, dass er jedwede Skrupel abzulegen vermag, um seine Ziele zu erreichen: Einen Aufstand der Bevölkerung erstickt er im Keim, indem er ohne mit der Wimper zu zucken – und ohne Vorwarnung – mit Kanonen auf sie feuern lässt.

Dieses diabolische Selbstbewusstsein konterkariert Scott immer dann, wenn er Napoleon in der Privatsphäre mit seiner Joséphine zeigt. Hier wird der grosse, seiner eigenen Meinung nach von Gott höchstpersönlich auserkorene Feldherr zur quengelnden, ödipalen Witzfigur: Bei seinen Bitten um Beischlaf gibt er Geräusche von sich, die an einen Säugling erinnern, der nach der Brust seiner Mutter verlangt. Nach wenigen Sekunden des unbeholfenen Rammelns, bei der seine Liebste teilnahmslos ins Leere starrt, ist das Trauerspiel dann vorbei.

Zu viel gewollt?

Das Problem: Ähnlich überhastet wie Napoleon mit heruntergelassener Hose präsentiert sich der Film selbst. Er jagt geradezu durch die Geschichte: Von der Französischen Revolution – in der Marie Antoinette einmal mehr und höchst grafisch den Kopf verliert – bis hin zu Napoleons krachender Niederlage bei Waterloo, die das Finale des Streifens darstellt. Durch die streng chronologische Erzählweise erinnert das zuweilen ans rasche Durchblättern eines Geschichtsbuchs. Hinzu kommt, dass Scott neben den Schlachten auch deren geopolitische Hintergründe und eben das Privatleben seiner Hauptfigur zeigen will. Doch um das alles mit dem nötigen Detailgrad zu tun, reichen die knapp zweieinhalb Stunden Laufzeit, mit der «Napoleon» ins Kino kommt, nicht im Entferntesten.

In dieser Hinsicht überhebt sich Scott auf ähnliche Weise an den eigenen Ambitionen, wie es im Sommer Christopher Nolan (53) mit «Oppenheimer» getan hat. Aus beiden Vorhaben sind gute Filme geworden, keine Frage. Beiden hätte es jedoch gut zu Gesicht gestanden, sich mehr auf weniger zu konzentrieren. Zum Vergleich: Der Film «Waterloo» von 1970 (unter anderem mit Christopher Plummer und Orson Welles) ist fast genauso lang wie «Napoleon» und beschäftigt sich nur mit dem titelgebenden Fiasko von 1815.

Doch dieser Kritikpunkt könnte schon bald ausgemerzt werden, wenn auch nicht im Kino: Bei «Napoleon» handelt es sich um eine Apple–Produktion, die über Sony Pictures ihren Weg ins Kino findet. Soll heissen: Zeitnah und gegebenenfalls weitaus ausführlicher, könnte Napoleon per Streamingdienst Apple TV+ die Wohnzimmer erobern. Ridley Scott hat schon im September dieses Jahres mitgeteilt, einen «fantastischen» Director's Cut des Films angefertigt zu haben – der knapp viereinhalb Stunden lang sein soll. Das mag exzessiv klingen, aber Epos der alten Schule braucht nun mal seine (Über–)Länge: «Ben Hur» kommt auch auf über 220 Minuten...

Scott, der Schauwert–Garant

Apropos episch: Über jeden optischen Zweifel erhaben sind die Schlachten, die Scott in «Napoleon» inszeniert. Unzählige reale Statisten sowie maximal gegensätzliche Schauplätze, vom gleissenden Ägypten bis zum eisigen Russland, zaubern Napoleons grössenwahnsinnigen Eroberungsdrang glaubwürdig auf die Leinwand. Diese Momente sind es dann auch, die gekonnt das strategische Genie darstellen, auf das sich Napoleon so viel eingebildet haben soll.

In Zeiten, in denen sich allzu viele Filmemacher auf Computereffekte verlassen, ist der 85–jährige Scott in positiver Hinsicht ein Kind der alten Schule, das echte Drehorte dem Greenscreen vorzieht. Auch «Napoleon» kommt selbstredend nicht ohne am Computer entstandene Effekte aus – andernfalls würde wohl allen voran PETA sturmlaufen. Jedoch vermag er diese kunstvoll zu verschleiern. Wer nun lieber auf die Streaming–Veröffentlichung wartet, statt ins Kino zu pilgern, dem muss auch klar sein: Dieses weitwinklige Spektakel vermag kein noch so üppiger Fernseher im Wohnzimmer gebührend zu reproduzieren.

Fazit:

Ihr persönliches Waterloo erleben Joaquin Phoenix und Ridley Scott mit «Napoleon» nicht. Dafür beherrschen beide Männer ihr Handwerk zu gut: Der Schauspieler vermag die krassen Gegensätze der Titelfigur meisterlich darzubieten. Und der Regisseur zeigt gerade bei den Schlachten real anmutende Schauwerte, die in Zeiten der Computereffekte–Inflationen beinahe ungewohnt geworden sind. Ein grosses Problem hat «Napoleon» dennoch: Der Film rast zuweilen ähnlich durch die Geschichte, wie Napoleon durch den Koitus: überhastet und unbefriedigend.

Von SpotOn am 23. November 2023 - 00:04 Uhr