Nina Hagen als deutsche Godmother of Punk zu bezeichnen, greift ein wenig zu kurz. Bei der exzentrischen Musik–Ikone handelt es sich um ein einzigartiges Gesamtkunstwerk, dass sich aus vielen Quellen speist und in keine Schublade zu kriegen ist.
Innen Hippie, aussen Punk
Dass mit dem Punk sei nichts als ein grosses Missverständnis, erklärte sie dazu vor wenigen Jahren dem Berliner Stadtmagazin «tip». «Ich selbst bin nie Punk gewesen, eher Hippie. Ich war auch Glamrocker, ich habe Bowie und Bryan Ferry geliebt und mir Glitter in die Haare geschmiert».
Wer Nina Hagen verstehen wolle, müsse sich erstmal mit Bertolt Brecht auseinandersetzen, der eine wichtige Inspiration für ihre Karriere gewesen sei. Schon als Kind sei sie Stammgast im Berliner Ensemble gewesen, an dem auch ihre schauspielernde Mutter Eva–Maria Hagen (1934–2022) immer wieder auf der Bühne stand. «‹Dreigroschenoper›, ‹Mutter Courage›, ‹Der Aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui›, mit den ganzen grossartigen Schauspielern, die es so nur in Ost–Berlin gab. Das ist die Grundlage für meine Bühnenpersona, dieses Rock‹n›Roll–Kabarett, das ich immer aufgeführt habe», erklärte sie weiter.
Ein politischer Mensch sei sie schon lange vor ihrem Einstieg in die westdeutsche Punk–Szene nach ihrer Ausbürgerung aus der DDR im Dezember 1976 gewesen. Als «Rock‹n›Roller» sei sie jedoch stets eher Schlichter als Richter gewesen – sie lege es darauf an, «verkrustete Haltungen» durch ihre Musik locker zu machen.
Punkiger Neustart im Westen
Vor ihrem Neustart im Westen hatte die Musikerin in ihrer alten Heimat bereits eine kurze Karriere als Schlager–Star hingelegt und mit humoristischen Stücken wie «Du hast den Farbfilm vergessen» oder «Das kommt weil ich so schön bin» ein paar vielbeachtete Hits gelandet. Nach der Ausbürgerung gönnte sich Nina Hagen erst einmal einen ausgiebigen Trip nach London, wo sie voller Begeisterung in die dort frisch entstandene Punk–Szene eintauchte und einige Inspirationen für den Neustart ihrer Karriere mit nach Hause brachte.
Im Herbst 1977 gründete sie mit vier Kreuzberger Musikern die Nina Hagen Band und etablierte sich nach der Veröffentlichung des gleichnamigen ersten Albums über Nacht als erster deutscher Punk–Superstar. Den ersten grossen Erfolg feierte sie mit der Single «TV–Glotzer», einer deutschen Coverversion des Hits «White Punks on Dope» von der US–Rockband The Tubes. Auch Songs wie «Auf'm Bahnhof Zoo» oder «Unbeschreiblich weiblich» kamen beim jugendlichen Publikum der Zeit bestens an und sorgten nebenbei für interessante Gespräche am elterlichen Abendbrottisch.
Nina Hagen sorgt für Unbehagen
Nina Hagen fiel nicht nur durch schräge Musik und ein schrilles Erscheinungsbild auf, sondern auch durch ein loses Mundwerk und absolute Unberechenbarkeit. Ziemlich bald sollte sich ihre divenhafte Exaltiertheit auch als grundlegendes Problem für ihre frisch gegründete Band herausstellen.
Bereits kurz nach der Veröffentlichung des sensationell erfolgreichen Debütalbums waren ihre Bandkollegen davon derartig genervt, dass das zweite Album mit dem sprechenden Titel «Unbehagen» (1980) nur unter aussergewöhnlichen Bedingungen aufgenommen werden konnte: Erst nachdem die Band alle Stücke in Abwesenheit der anstrengenden Sängerin eingespielt hatte, kam diese ins Studio, um die Gesangsparts einzusingen. Trotz allem wurde auch diese Platte ein voller Erfolg und beinhaltete mit dem Song «African Reggae» die wohl beliebteste deutsche Kifferhymne aller Zeiten.
Nach dem jähen Kollaps ihrer Band setzte Nina Hagen ihre Karriere auf Solo–Pfaden weiter, während die restlichen Musiker in den 1980ern unter dem Namen Spliff zu Ruhm kommen sollten. Zwischen 1980 und 1986 irrlichterte die Sängerin vorwiegend von den USA, Grossbritannien und den Niederlanden aus durch die Musikwelt. Ihr erstes Solo–Album mit dem Titel «NunSexMonkRock» geriet äusserst avantgardistisch und konnte kommerziell nicht an die vorherigen Erfolge anknüpfen, auch auf dem Nachfolger «Angstlos» fanden sich nur wenige Stücke mit Hit–Charakter.
Mit Jean Paul Gaultier zur Punk–Diva
1986 kehrte die Sängerin, mittlerweile Mutter einer kleinen Tochter namens Cosma Shiva (43), nach Deutschland zurück und inszenierte sich unter Mithilfe des französischen Mode–Designers Jean Paul Gaultier (72) mit neuem Look als kosmopolitische Punk–Diva. 1987 heiratete sie aus einer wilden Laune heraus einen siebzehnjährigen Punk aus der Londoner Hausbesetzerszene, der jedoch bereits nach einer Woche wieder die Scheidung einreichte. Zudem machte sie durch ihre in TV–Talkshows ausgebreiteten UFO–Theorien und ihr reges Interesse an Spiritualität und Religionen von sich reden.
Musikalische Erfolge stellten sich jedoch erst wieder ein, nachdem sie im Jahr 1993 mit dem Album «Revolution Ballroom» und dem britischen Produzenten Phil Manzanera einen neuen Anlauf unternahm. Nachdem sie nach der Jahrtausendwende zunehmend in Vergessenheit geraten war, gelang ihr 2009 mit ihrem englischsprachigen Album «Personal Jesus», auf der sie bekannte Gospel– und Blues–Stücke auf einzigartige Weise neu interpretierte, endlich wieder ein grosser kommerzieller Erfolg, der ihr mit Platz 16 die höchste Chartposition ihrer gesamten Karriere bescherte.
Nina Hagens vorerst letztes musikalisches Lebenszeichen stellte ihr 2022 erschienenes Album «Unity» dar, auf dem sich die Sängerin wieder betont politisch und aktivistisch gab. Neben feministischen Hymnen wie «United Women of the World» und kapitalismuskritischen Songs wie «Geld, Geld, Geld» findet sich darauf auch ein äusserst entspanntes Reggae–Stück mit dem Titel «Atomwaffensperrvertrag».