In seinem 19. Fall an Neujahr 2024 musste Bundespolizist Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring, 57) einen schweren Verlust hinnehmen: Seine Kollegin Julia Grosz (Franziska Weisz, 44) kam ums Leben, was den eigenbrötlerischen Kommissar in eine schwere Krise stürzte. Seitdem war es ruhig um Falke, der sich knapp ein Jahr später in seinem 20. «Tatort» in einem Kloster wiederfindet, um dort seine Dämonen und Schuldgefühle zu bekämpfen. Doch zur Ruhe kommt er in «Schweigen» (Sonntag, den 1. Dezember ab 20:15 Uhr im Ersten) nicht.
Nach dem Tod eines Pfarrers findet er sich fast schon unfreiwillig inmitten eines offensichtlichen Mordes wieder, der nur die Spitze des Eisberges zu sein scheint. Über Jahrzehnte hinweg haben offenbar Geistliche Kinder und Jugendliche missbraucht, was den sowieso schon angeschlagenen Falke noch mehr an seine geistigen Grenzen bringt. Schnell übernimmt er die Ermittlungen und versucht einen Sumpf aus Lügen, Schweigen und Intrigen auszutrocknen, um nicht nur den Mörder zu finden, sondern auch an die Hintermänner der unfassbaren Taten zu gelangen.
Eine Sache überrascht beim aktuellen «Tatort: Schweigen» besonders: Noch nie in der Geschichte des beliebten Sonntagskrimis traute sich ein Filmemacher an eines der grössten Serienverbrechen der letzten Jahrzehnte heran: Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche. Das fand auch der NDR–Fernsehfilmchef Christian Granderath (65) «unfassbar», wie Drehbuchautor Stefan Dähnert (63) vorab im Interview erzählt. Darum habe er angefangen zu recherchieren und sei zudem auf einen aktuellen Fall, der derzeit bei der Staatsanwaltschaft Saarbrücken anhängig sei, gestossen. Herausgekommen ist ein bemerkenswerter «Tatort», der auch Wochen, wahrscheinlich Monate nach der Ausstrahlung noch in aller Munde sein wird.
Darum geht es im «Tatort: Schweigen»
Wie schon angerissen, verbringt Thorsten Falke (Möhring) nach dem Tod seine Kollegin Grosz eine Auszeit in dem abgelegenen Kloster St. Joseph, als der Pastor der dortigen Gemeinde bei einem Brand eines Wohnmobils ums Leben kommt. Schnell ist klar: Ein Unfall ist ausgeschlossen, war es also Mord?
Falke hilft der leitenden Ermittlerin bei ihrer Arbeit und entdeckt in einem abgelegenen Keller des Klosters kinderpornografisches Material. Falke bietet sich an, die vielen Bilder, Dias und Filmaufnahmen zu sichten und stösst dabei auch auf Kinderbilder seines Kloster–Mitbewohners und Freundes Daniel Weinert (Florian Lukas, 51), der offensichtlich vor Jahrzehnten ebenfalls Opfer des verstorbenen Geistlichen wurde. Hat er etwas mit dem Tod des Pfarrers zu tun? Und wer sind die Hintermänner der schrecklichen Taten? Falke reisst die Ermittlungen komplett an sich...
Lohnt sich das Einschalten beim «Tatort: Schweigen»
Und wie! Wotan Wilke Möhring legt mit «Schweigen» seinen bis dato wohl besten «Tatort»–Auftritt hin. Vor allem eine Szene wird sich ins Gedächtnis der Zuschauerinnen und Zuschauer ätzen: Falke sitzt mit einem alten Dia–Projektor in einer Kapelle, um kinderpornografisches Material zu sichten. Die Kamera hält dabei nur auf sein Gesicht, während der Projektor unnachgiebig und vollautomatisch eine schreckliche Aufnahme nach der anderen für den Ermittler einlegt und Falke immer mehr verzweifeln lässt. Der Zuschauer fühlt – ohne Visualisierung, was für verstörende und abscheuliche Bilder Falke zu sehen bekommt und kann seine psychische Belastung mit Händen greifen.
Ebenfalls überzeugt die Episodenhauptrolle von Florian Lukas auf ganzer Linie. Die meisten Zuschauer kennen Lukas vor allem aus Filmen wie «Absolute Giganten» (1999) oder «Good Bye, Lenin!» (2003) sowie Serien wie «Weissensee» (2010–2018) und «Die Wespe» (2021–2023). In «Schweigen» zeigt Lukas jedoch seine tiefgründige und nachdenkliche Seite – und das mit absoluter Bravour. Zu jeder Sekunde nimmt man ihm seine Verzweiflung ab, die er aufgrund seines durch Missbrauch zerstörten Lebens in sich trägt. Besser hätte man diese tragende Rolle nicht besetzen können.
«Schweigen» nimmt sich schonungslos und ohne Filter den unfassbaren Gräueltaten von Geistlichen der katholischen Kirche an und wirft zudem einen realistischen Blick auf die Tatsache, dass die Institution dahinter über Jahrzehnte hinweg Täter geschützt hatte, um Schaden von der Kirche abzuwenden. Ein Film, den der «Tatort»–Sonntag schon vor Jahren gebraucht hätte. Man kann nur hoffen, dass sich die «Tatort»–Macher in Zukunft häufiger ohne Angst vor Repressalien mit solch heiklen Themen auseinandersetzen werden.