Schön, Sie wiederzutreffen», sagt Viviane Oberholzer. Auch René Prêtre (66) lächelt. «Wie geht es Ihnen?», fragt er die 20-jährige Zürcherin. – «Gut.» 17 Jahre ist es her, dass der renommierte Herzchirurg Viviane Oberholzer zuletzt gesehen hat. Damals lag sie vor ihm auf dem Operationstisch, in ihrem geöffneten Brustkorb hörte es nicht auf zu bluten. Der Schweizer des Jahres 2009 erinnert sich: «Ich habe nicht mehr daran geglaubt, Sie retten zu können.» Der Arzt und seine ehemalige Patientin stehen vor dem Kinderspital (Kispi) Zürich.
«Kommen Sie», sagt Viviane Oberholzer, «ich stelle Ihnen meine Familie vor.» Mutter Barbara (57) und Vater JeanMarie (68) Schwester Aline (18) und Grossmutter Hildegard sind da. Viviane wird an diesem Nachmittag im KispiHörsaal beim Abschiedssymposium zu Ehren von Professor René Prêtre einen Vortrag halten – über ihr Leben mit einem angeborenen Herzfehler. Prêtre ist von Lausanne gekommen, wo er am Unispital Lausanne heute Erwachsene am Herzen operiert. Von 2001 bis 2012 war der Jurassier Chefarzt der Kinderherzchirurgie am Kispi. Viermal hat er während dieser Zeit, unterstützt von einem vielköpfigen Team, Vivianes Herz operiert.
Ende November 2002 kommt Viviane auf die Welt. Zwei Tage nach der Geburt stutzt ihre Mutter Barbara, Ärztin von Beruf: Ihr Baby hat kaum Kraft, an der Brust zu saugen, zu atmen, zu weinen. Nachdem der Kinderarzt ein auffälliges Herzgeräusch gehört hat, wird das Neugeborene von einem Herz- spezialisten untersucht. Der Befund: grosse Defekte an den Scheidewänden zwischen den Vorhöfen und zwischen den beiden Herzkammern. Zudem sind Hauptschlagader und Lungenarterie vertauscht. Und die rechte Kammer ist viel zu klein. Es ist eine Korrektur nötig, die mindestens drei Herzope- rationen verlangt. Die kleine Patientin kommt sofort auf die Intensivstation des Kispi. Acht Tage nach der Geburt wird sie notfallmässig von Prêtre operiert: Damit der Kreislauf funktio- niert, verbindet er beim baumnuss- grossen Herz die Hauptschlagader mit der Lungenarterie.
Zwei Monate später dürfen die Eltern ihr Kind mit nach Hause nehmen. Als die Mutter wieder als Internistin zu arbeiten beginnt, teilen sich die Eltern die Kinderbetreuung, Vater Jean-Marie ist Sachbearbeiter bei einer Bank. Keine Kinderkrippe will das Bébé aufnehmen – wegen seines Herzfehlers und der Magensonde.
Zwei Wochen kein Lächeln mehr
Im Sommer 2003 folgt die zweite Herzoperation. Und ein Jahr später liegt Viviane erneut acht Stunden auf dem OP-Tisch. Es folgen schwere Komplikationen: Die Zweieinhalbjährige verliert deziliterweise Flüssigkeit, die Nieren funktionieren nicht mehr richtig, die Leber schwillt an. «Auf der Intensivstation hat sie zwei Wochen nicht mehr gelächelt», erinnert sich ihre Mutter.
Zu Hause in Pfäffikon ZH erholt sich die kleine Patientin langsam. Im Herbst 2005 zeigt ein Herzkatheter-Unter- such, dass die linke Lungenarterie vollständig geschlossen ist. Am Vormittag des 11. Novembers wird Viviane im Kispi für ihre vierte Herzoperation vorberei- tet. Die Eltern sagen ihrer Tochter auf Wiedersehen, fahren weg: Der Vater nach Hause, die Mutter zu ihrem krebskranken Vater – der 66-Jährige liegt im Sterben.
Beide warten auf einen Anruf vom Spital, dass die Operation beendet ist – doch er kommt nicht. Angespannt fahren sie ins Kispi. Nach einer Weile trifft Prêtre sie in einem Gang der Intensivstation, mit müden Augen, abgekämpft. Der Zustand ihrer Tochter sei sehr kritisch, informiert er die Eltern: Die OP sei fertig, doch aus allen Gefässen in ihrem geöffneten Brustkorb fliesse das Blut, die Blutungen seien kaum zu stoppen. Er gehe vom Schlimmsten aus: «Es tut mir leid. Die Situation entgleitet unseren Händen.» Die Eltern sind fassungslos. Ein Blick in ihre Augen – und Prêtre weiss: «Ich muss weiterkämpfen!»
Er geht zurück in den OP-Saal, beugt sich mit Lupenbrille und Klemme wieder über Vivianes Herz. Ihr Vater betet in der Kispi- Kapelle. Drei Stunden später benach- richtigt der Chirurg die Eltern: «Die Blutungen sind jetzt einigermassen unter Kontrolle. Bleibt es so, hat Ihre Tochter eine Überlebenschance.» Eine halbe Stunde später erfährt Vivianes Mutter, dass ihr Vater gestorben ist.
«Es tut mir leid. Die Situation entgleitet unseren Händen»
René Prêtre
«Das war für uns alle eine schwere Zeit», sagt Viviane Oberholzer heute zu René Prêtre. Vor dem Kispi unterhalten sie sich mit Vivianes Angehörigen. In den vergangenen 17 Jahren ist viel passiert. Viviane hat eine KV-Lehre absolviert. Die Nachricht, dass sie die Berufsmatura bestanden hat, erfährt sie am Hip-Hop-Festival in Frauenfeld. Heute arbeitet sie als Sachbearbeiterin bei einer Immobilienfirma.
Da eine Hälfte ihres Herzes fehlt, hat sie mit Einschränkungen zu kämpfen. Läuft sie auf einer Treppe zwei Stock- werke hoch, gerät sie ausser Atem. Seit ihrer vierten Operation geht sie jährlich einmal zur Herzkontrolle. Zweimal täglich muss sie Medikamente einnehmen, zehn Tabletten insgesamt. Zweimal pro Woche geht sie ins Fitnessstudio.
Der 11. November ist immer ein besonderer Tag. «Damals wurde ich zum zweiten Mal geboren», sagt die selbst- bewusste Frau zu Prêtre. «Mein Herz funktioniert. Ich habe eine liebe Familie. Ich bin zufrieden.» Sie habe ein ziemlich normales, gutes Leben. «Dank Ihnen lebe ich noch, merci beaucoup!» Viviane schmunzelt. «Eigentlich ist es ja ganz gut, dass ich Sie in den letzten 17 Jahren nicht mehr gesehen habe.»