Es ist das Vermächtnis einer Legende, das Sofia Giorgetti-Regazzoni übernimmt. Die 17-jährige Tessinerin ist die Enkeltochter von Formel-1-Star Gianclaudio Giuseppe «Clay» Regazzoni. Ihren Grossvater hat sie nie erlebt – er starb kurz vor ihrer Geburt. «Ich hätte ihn so gerne kennengelernt. Aber dank den vielen Erzählungen von meiner Mamma ist es mir trotzdem gelungen, eine Beziehung zu ihm aufzubauen», sagt sie. In der Wohnung Giorgetti-Regazzoni in Lugano ist Clay jeden Tag präsent. An den Wänden hängen Bilder des Formel-1-Fahrers, der Schrank in der Stube ist mit einer Ferrari-Zeichnung bemalt.
«Ich möchte so gut werden, wie Nonno es war – nicht nur im Sport, sondern vor allem als Mensch», sagt Sofia. Mamma Alessia Regazzoni, 57, lächelt. Dann sagt sie: «Es ist für mich keine Überraschung, dass meine Tochter den Motorsport liebt. Da ich ein grosser Formel-1-Fan geblieben bin, ist Sofia zwischen Rennbahnen und Motorenöl aufgewachsen, hat Benzin im Blut.
Mamma Alessia liess eine Doublette von Clays Helm anfertigen. Im Büro der Familie ist eine kleine Ausstellung.
David Kuenzler
Freude an der Geschwindigkeit
Sofia fängt mit sieben Jahren an, Gokart zu fahren. Und sie fährt Ski, die Leidenschaft ihres Vaters Luca Giorgetti, 54. Die hohe Geschwindigkeit der Sportarten fasziniert sie, in beiden ist sie sehr gut, holt im Skifahren bis zur Stufe U16 mehrere Podestplätze. «Aber das Rennfahren ist einfach mehr mein Ding. Ich wollte mich darauf konzentrieren.»
Aber es fehlte an einem weiblichen Vorbild. «Es hätte mir geholfen und mich inspiriert, wenn ich mehr Frauen auf der Rennstrecke gesehen hätte», meint Sofia. Dass eine Frau an einem Formel-1-Rennen teilgenommen hat, ist fast 50 Jahre her. In der Geschichte der Formel 1 gab es bisher nur fünf Rennfahrerinnen, die an mindestens einem Grand Prix teilgenommen haben. Die Italienerin Lella Lombardi ist bis heute die Einzige, die an der Weltmeisterschaft Punkte sammeln konnte – beim Grand Prix von Spanien 1975.
Momentan fährt Sofia einen Porsche Cayman in der GT4. Alle zwei Wochen kann sie auf die Rennstrecke.
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Ungleiche Voraussetzungen
Sofia Giorgetti-Regazzoni blieb hartnäckig, wechselte mit 15 vom Kart in die Formel 4. Träumte davon, mit Männern zu konkurrieren. «Ich wollte endlich etwas verändern. Wollte zeigen, dass wir Frauen genauso gut sein können und dass Motorsport nichts mit dem Geschlecht zu tun hat.» Der Beginn ihres Traums schien zum Greifen nah. Aber die junge Frau wurde enttäuscht. Sie war das einzige Mädchen im Training neben Dutzenden jungen Männern. «Ich wurde nicht ernst genommen, weil ich ein Mädchen bin. Man hat mich belächelt, ich habe mich nicht wohlgefühlt.» Es wurde ihr zu viel. Die fehlende Unterstützung, die Bevorzugung der Männer, hämische Bemerkungen und der Leistungsdruck liessen Sofia an ihre Grenzen stossen.
Ans Aufgeben hat sie aber nie gedacht! Sie entschied sich, die Kategorie zu wechseln und in der GT4-Klasse zu fahren. Diese Klasse ist bekannt für Rennen mit Sportwagen wie Porsche Cayman oder BMW M4. Im Gegensatz zur Formel 4, wo in offenen Einsitzern gefahren wird, sitzt Sofia nun hinter dem Steuer geschlossener Rennfahrzeuge, fährt mit 450 PS bis zu 260 Stundenkilometer. «Das Umfeld ist hier besser, ich bin das einzige Mädchen, aber bekomme viel mehr Unterstützung. Und jetzt, mit 17 Jahren, habe ich auch mehr Selbstbewusstsein entwickelt.»
Angst hat nur der Vater
Ob sie manchmal Angst vor der Geschwindigkeit hat? «Nie», entgegnet die junge Frau. Auch Mamma Alessia nimmts gelassen: «Clay sagte immer, Angst existiere nicht. Und das Leben ist vorgezeichnet – auch, wann unser letztes Stündlein schlägt.» Papa Luca ruft in die Runde: «Ich weiss, ich bin der Einzige, aber ich habe Angst!» Die Familie lacht. Hündchen Pepe bellt zustimmend. «Das Lachen und diese Furchtlosigkeit hat Sofia von ihrem Grossvater», sagt Alessia.
Pokale, Diplome, Auszeichnungen: In Sofias Zimmer wimmelt es von Rennsportobjekten – und von Fotos ihres Grossvaters.
David KuenzlerSofia trainiert auf der Rennstrecke im italienischen Cremona in der Race Academy des Tessiner Fahrers Alex Fontana. Aber Motorsport ist komplizierter als andere Sportarten: Sie kann nur alle zwei Wochen auf die Strecke gehen. In der Zwischenzeit besucht sie das dritte Jahr des Gymnasiums in Lugano. Seit einiger Zeit ist sie mit einem Jungen zusammen, mit dem sie ihre Leidenschaft für Motoren und Geschwindigkeit teilt. «Wenn wir gemeinsam auf der Rennstrecke ankommen, denken alle, dass ich seine Begleiterin sei. Aber dann fahre ich ihm davon», erzählt sie mit einem schelmischen Lächeln. Noch ist sie keine Rennen gefahren, aber das soll sich ändern. Denn sie hat einen neuen Traum: in die GT3 aufzusteigen – die beste der GT-Kategorien.
Clay Regazzoni, der erfolgreichste Schweizer Formel-1-Fahrer, feierte fünf Grand-Prix-Siege und wurde 1974 Vizeweltmeister. Nach einem Unfall 1980 war er querschnittgelähmt.
Er engagierte sich fortan für den Behindertensport und entwickelte eine Autosteuerung für querschnittgelähmte Fahrer. Der zweifache Vater starb 2006 im Alter von 67 Jahren bei einem Unfall auf der Autobahn in Italien.
Der Nonno wäre stolz
Für die 17-Jährige ist eines klar: Sie möchte in Zukunft auf jeden Fall eine Rolle in der Welt des Motorsports übernehmen. Entweder als Fahrerin oder als Sportjournalistin. Sofia wird nachdenklich. Dann sagt sie: «Für mich ist Nonno eigentlich nie gestorben. Er ist so präsent in unserer Familie.» Mamma Alessia fügt hinzu: «Ich weiss, dass mein Vater Sofia sehr geliebt hätte. Und dass er sehr stolz auf sie wäre. Das hätte er zwar nicht gezeigt – aber er wäre es.» Wo einst ihr Nonno Geschichte schrieb, will Sofia nun ihr eigenes Kapitel hinzufügen. Als Erbin seines Namens und seines Löwenmuts.