Man soll ja bekanntlich aufhören, wenn es am schönsten ist. Eine, die diesen Zeitpunkt verpasst hat, ist Heidi Klum, 47. Ich gebe zu: Als 2006 die erste Staffel «Germany's Next Topmodel» mit Heidi als Moderatorin gezeigt wurde, jubelte ich. Und mit mir zusammen meine Freundinnen, meine grosse Schwester, meine Mama und ein sehr breites TV-Publikum.
Als Lena Gercke, 33, damals zur Siegerin gekürt wurde, weinte ich Tränen der Rührung. Heidi war super, Lena war super, die Sendung revolutionär. Alles Bling Bling. Alles Glamour. Auch Gerckes Karriere. Die Moderatorin und das Model ist bis heute erfolgreich. «GNTM» als Karrieresprungbrett: Lena ist gesprungen, hoch geflogen und bis heute nicht hart gelandet.
Ganz im Gegensatz zu den meisten anderen Siegerinnen. Oder habt ihr zu Namen wie Jana Beller, Lovelyn Enebechi, Cöline Bethmann oder Simone Kowalski noch Gesichter?
Okay. Man könnte jetzt sagen, bei «GNTM» geht es schon lange nicht mehr um eine ernsthafte Model-Karriere. Viel mehr soll den Zuschauern seichte Unterhaltung geboten werden. Zickenkriege, Tränen, verängstigte junge Mädchen bei waghalsigen Shootings, viel nackte Haut und eine Klum, die als Super-mega-Topmodel mit gefühlten 1000 Jahren Erfahrung im Business die Fäden zieht.
Casting-Show-Style halt.
Als wäre das alles nicht schon übel genug, stört mich je länger je mehr die Tatsache, dass Heidi die Sendung schon lange zu ihrer persönlichen Showbühne erkoren hat.
Statt die Mädchen an die Hand zu nehmen und sie ernsthaft in das per se nicht einfache Model-Business zu führen, nutzt die Klum die Sendezeit etwa, um ihre Kinder zu promoten. So hatte in der aktuellen Staffel Töchterchen Leni einen Gastauftritt – zeitgleich gab der Spross sein Model-Debüt bekannt und posierte mit Mama Heidi auf der Titelseite der «Vogue». Connections muss man haben.
Apropos Connection: Ratet mal, von welcher weltberühmten und immer noch sehr erfolgreichen Band auch dieses Jahr der Titelsong zu «GNTM» kommt? Richtig, Tokio Hotel. Oh, Tom Kaulitz, der Gitarrist, der ist doch mit Heidi verheiratet? Richtig! Sein Zwillingsbruder Bill darf jeweils als Gastjuror und Designer auch noch seine neuen Kollektionen zeigen. Vetterliwirtschaft vom Feinsten.
Nicht nur wegen Heidis One-Woman-, beziehungsweise One-Family-Show, habe ich als ehemalige sehr grosse «GNTM»-Anhängerin die Schnauze voll.
In den ersten acht Staffeln drehte sich wenigstens nicht alles um Heidi. Heidi moderierte. Aber Thomas Hayo und Michael Michalsky hatten als fixe Jurymitglieder viel zu sagen und trugen enorm viel dazu bei, dass die Mädchen einigermassen seriös durch die Staffeln gecoacht wurden.
Seit Hayo und Michalsky weg sind, präsentiert Heidi jede Woche neue Gastjuroren. Alles, es wird euch nicht erstaunen, «sehr gute Freunde» von ihr.
In den Final-Sendungen jeweils das gleiche Bild. 2019 zum Beispiel durften Tokio Hotel in der Live-Sendung ihren neuen Song präsentieren.
Mit Verlaub, aber: WTF, ProSieben?
Ich kann es nicht abstreiten. Mein Herz schmerzt. Habe ich «GNTM» doch jeweils sehr gerne gesehen. Und mit den Meeeeedchen mitgefiebert.
Derweil aber bin ich raus. Sind übrigens auch alle meine Freundinnen – und meine Familie. Sogar mein Patenmädchen, das mit ihren süssen 16 Jahren voll das Zielpublikum wäre, ist zu schlau für die Chose. Sie und ihre Clique finden es massiv uncool, dass so eine «alte Frau» junge Mädchen, die vom grossen Model-Business träumen, gegeneinander aufhetzt, sie vorführt und ihnen ein unrealistisches Bild vom Model-Business vorgaukelt.
Ich könnte nicht stolzer auf die Kleine sein.
Aus masochistischen Gründen werde ich dennoch heute Abend um 20.15 Uhr einschalten, wenn Soulin, Romina, Alex und Dascha um den Sieg kämpfen. Ich werde dasitzen und mich aufregen. Vielleicht sollte ich meine Zeit in etwas Gescheiteres investieren. Kühlschrank rausputzen und dazu Katzenvideos schauen. Es wäre zumindest einiges nachhaltiger als die «Karriere» des Mädchens, das heute gewinnen wird!
Okay, gut, bevor ich gehe, noch etwas Nettes: Mit Dascha und Alex stehen zum ersten Mal ein Plus-Size- und ein Transgender-Model im Finale. Das ist cool. Vielleicht ist es aber auch ein letzter verzweifelter Versuch, mit Diversity das junge Publikum an sich zu binden.
On verra!