Mein Ausgangspunkt war Oshi, das Orang-Utan-Bébé. Es ist der beste emotionale Botschafter», sagt Claude Barras. «Dem jungen Publikum will ich eine Geschichte bieten, die in die gleiche Richtung geht wie ‹Bambi›. Der Zeichentrickfilm hat meine Kindheit geprägt.»
Der 52-jährige Unterwalliser Filmregisseur sitzt am Stubentisch bei sich zu Hause in Venthône VS. Der Bauernsohn ist gespannt, ob sein neues Werk «Sauvages – Tumult im Urwald» ebenso ankommt wie sein erster Stop-Motion-Animationsfilm. «Ma vie de Courgette» – «Mein Leben als Zucchini» war 2016 ein riesiger Publikumserfolg. Er gewann den Preis für den besten Schweizer Spielfilm, wurde mit zwei Césars ausgezeichnet, war für den Oscar nominiert. «Diesmal habe ich eine andere Botschaft.»
«Sauvages» (Die Wilden) spielt im Urwald von Borneo, einer riesigen Insel in Südostasien. Der Film erzählt die Geschichte des Mädchens Kéria, das auf einer Plantage nahe des Regenwalds das verwaiste Orang-Utan-Baby Oshi aufnimmt. Zur gleichen Zeit sucht Cousin Selaï bei ihnen Zuflucht vor dem Konflikt zwischen seiner Nomadenfamilie und Holzfirmen. Gemeinsam trotzen die drei allen Hindernissen, die ihnen beim Kampf gegen die Zerstörung des Urwalds begegnen.
Das Abholzen durch geldgierige Firmen – das sind die Wilden – und das Anpflanzen von Palmen zur Gewinnung von Öl, das in vielen unserer Lebensmittel vorkommt, haben verheerende Auswirkungen: für die indigene Volksgruppe der Penan wie auch die sonst schon vom Aussterben bedrohten Orang-Utans aus der Familie der Menschenaffen.
333 Personen haben mitgearbeitet
Regisseur Claude Barras kennt den Reichtum der dortigen Flora und Fauna gut. Sechs Wochen verbrachte er 2018 in der Region Sarawak – um in diese Urwaldwelt einzutauchen. «Ich hatte das Glück, zehn Tage mit einer Nomadenfamilie zu leben, darunter war ein Mädchen, das in dieser Tradition aufgewachsen war. Das hat meine Geschichte stark inspiriert.» Sein neues Werk, betont Barras, sei eine ökologische Fabel für jedes Alter, «vor allem für Acht- bis Zwölfjährige».
Barras’ neuer Film war eine Mammutaufgabe auf technisch anspruchsvollem Niveau. 333 Personen haben mitgearbeitet, die Produktionskosten waren mit 12,5 Millionen Franken doppelt so hoch wie bei «Mein Leben als Zucchini». Der Regisseur schmunzelt: «Disney-Animationsfilme erfordern zehnmal mehr Investitionen als ‹Sauvages›.» 1,2 Millionen Franken kostete bei seinem neuen Werk die 13 Monate dauernde Herstellung der 90 Marionetten – nur schon alle Marionetten für die Hauptfigur Kéria kamen auf 160000 Franken zu stehen. Die Protagonisten wurden erst gezeichnet, dann als Knetmasse zum Leben erweckt. Die endgültige Version einer Marionette besteht aus einem Gerüst (dem Skelett mit Gelenken), aus Silikon (für die Haut) und Latexschaum (für Haare und Borsten). Anschliessend wurden die Figuren bemalt und bekleidet.
Authentische Requisiten
Dann folgte der zweite grosse Arbeitsabschnitt, die Dreharbeiten. Sie fanden an 180 Tagen in einer stillgelegten Fabrik in Martigny VS statt. Die Herstellung der Kulissen dauerte elf Monate, gedreht wurde an 19 Filmsets, fünf davon 100 Quadratmeter gross.
Die meisten der am Dreh Beteiligten stellten täglich je 30 Sekunden des 75-minütigen Films zusammen. Barras, der fast jeden Tag die 50 Kilometer zwischen Venthône und Martigny auf seinem E-Bike zurücklegte: «Die Penan waren in die Entwicklung stark eingebunden. Angehörige von ihnen stellten nach traditioneller Art Requisiten wie Taschen und Blasrohre für die Figuren her.»
Die Penan-Frau Nelly Paysan, die den Basler Umweltaktivisten Bruno Manser in den 1980er-Jahren begleitet hatte, und ihre Tochter waren für die Dialoge in der Sprache ihrer Volksgruppe verantwortlich. Während im Kino «Sauvages» zu sehen ist, wird im Osten Borneos die künftige indonesische Hauptstadt Nusantara aus dem Boden gestampft. Dafür wird ein Teil des Dschungels, der als grüne Lunge der Erde gilt, abgeholzt. «Dieser Wald ist 120 Millionen Jahre alt», sagt Barras, «was dort, aber auch an anderen Orten auf der Welt passiert, ist eine Form von Kriminalität im Namen wirtschaftlicher Interessen.»
Barras ist Vater einer bald zweijährigen Tochter und betont: «Die Erde gehört uns nicht. Wir leihen sie uns von unseren Kindern.» Mit seinem Film wolle er nicht den Zeigfinger erheben, sondern zum Nachdenken anregen. «Finden wir Wege, respektvoller mit unserem Planeten umzugehen! Etwa, indem wir unsere Essgewohnheiten überdenken. Kämpfen und sorgen wir dafür, dass das, was von der Umwelt noch übrig ist, für die künftigen Generationen erhalten wird.»
Der Walliser kommt ins Philosophieren: «Wir könnten anders leben, indem wir mehr auf der Seite des Lebens und der Schönheit, der Harmonie und des Gleichgewichts stehen als auf der Seite der Zerstörung und des Todes.»
Bearbeitung: Thomas Kutschera