Einmal die magischen 50 Knoten knacken. Das ist der grosse sportliche Traum von Heidi Ulrich. Als erste Frau der Welt. Viel fehlt nicht. 47,16 Knoten (rund 87 km/h) über 500 Meter hat sie auf ihrem Surfbrett, den Wind im Rücken, bereits geschafft: Weltrekord für die 39-jährige Urnerin! Und trotzdem: Einmal die 50 Knoten auf dem Messgerät sehen – ein hochgestecktes Ziel.
Speedsurfen. Eine Randsportart. Heidi Ulrich und ihr Partner Christian Arnold stecken viel Energie und finanzielle Mittel in diese Leidenschaft. Die vor rund zehn Jahren ihren Anfang nimmt. Heidi begleitet ihren damaligen Partner nach Namibia. Er: ein Top-Surfer. Sie: blutige Anfängerin. «Ich hatte keine Ahnung von der richtigen Technik, konnte kaum auf dem Brett stehen», erzählt Ulrich lachend. Doch dann beobachtet sie voller Ehrfurcht die Windsurfer in dem eigens für das schnelle Surfen präparierten Kanal in Lüderitz an der namibischen Küste. Etwa 800 Meter lang, sieben Meter breit, 50 Zentimeter tief und mit Windstärken, bei denen jeder vernünftige Mensch die Terrassenmöbel in Sicherheit bringen würde. «So surfen will ich auch», erklärt sie und erntet Gelächter. Sie aber meint es ernst.
«Wir wollen frei sein»
Bis dahin spielt sie Volleyball und Beachvolleyball auf hohem Niveau. Jetzt setzt sie alles auf die Karte Surfen. Sie trainiert wie eine Besessene. Ihre Partnerschaft zerbricht. 2016 lernt sie beim Training ihre neue grosse Liebe, Christian Arnold (46) kennen. Sie erzählt ihm vom Traum, und er sagt: «Kein Problem, ich mache dich zur Weltmeisterin.»
Das Paar lebt in Flüelen UR am Urnersee. Direkt unterhalb ihres Wohnblocks können sie mit ihren Surfbrettern aufs Wasser. Beide arbeiten Vollzeit, Heidi Ulrich seit Anfang März selbstständig nach zehn Jahren im HR einer Zürcher Firma. Sie bietet Unternehmen ihr Know-how im Personalbereich an. Christian Arnold leitet Kurse in der Technologie der Glasfaserkabel. Den grossen Teil ihrer Arbeit leisten sie remote – also ohne festen Arbeitsplatz. Eine Familie? Kinder? Das steht nicht auf ihrer Bucketlist. «Wir wollen frei sein, das Beste aus dem Tag machen, Spass haben», erzählt Heidi Ulrich mit leuchtenden Augen. In ihrer Homebase am Urnersee ist die Leidenschaft sichtbar. Bilder, Trophäen, Medaillen, Neoprenanzüge und mehrere «Guinness Bücher der Rekorde» stapeln sich in der gemütlichen Dachwohnung.
Weltrekord in Namibia
Christian Arnold hat sein Versprechen gehalten. Heidi Ulrich ist inzwischen nicht nur Weltmeisterin im Speedsurfen. Auch in fünf Guinness-Büchern ist sie mit Weltrekorden eingetragen. «Beim ersten Mal war da schon viel Stolz», berichtet sie. Inzwischen hat sie sich ein bisschen daran gewöhnt. Den WM-Titel holt sie im vergangenen Jahr, den Weltrekord über 500 Meter im Kanal in Namibia im Herbst 2022. Und auch über die nautische Meile war noch keine Windsport-Frau schneller als Heidi.
Es gibt nur wenige Orte auf der Welt, wo regelmässig Windgeschwindigkeiten von 80 bis 120 Stundenkilometern herrschen. Doch diese braucht es, um den Weltrekord zu surfen. Einer davon ist Lüderitz, dank einer besonderen, schwer erklärbaren Thermik. Der andere ist La Palme in Südfrankreich. Dort finden ab Mitte April die Surf-Weltmeisterschaften statt. Speedsurfen ist eine der vier Disziplinen. «Hier geht es aber nicht um Rekorde», erzählt Heidi Ulrich. «Es geht vielmehr darum, die schnellste Zeit herauszufahren.»
Hohe Verletzungsgefahr
Um schnell zu sein, braucht Heidi neben Wind auch Stabilität. Deshalb trägt sie bis zu 20 Kilo Gewichte am Rücken. Drei Schwimmwesten sorgen dafür, dass sie nicht untergehen kann. Die Verletzungsgefahr ist gross, wenn sie bei Geschwindigkeiten um 90 Kilometer pro Stunde vom Brett fällt «und wie ein flacher Stein über das Wasser schiefert». Deshalb trägt sie einen Helm. Darüber eine Skibrille. «Sonst hätte ich Sand in den Augen.» Ein paar Bänderrisse hat sie davongetragen, Finger und Nase gebrochen. Das nimmt sie in Kauf. «Dabei mag ich Wasser nicht einmal so gern», sagt sie. «Ich bin nur gern auf dem Wasser, nicht darin.»
Hinzu kommt der finanzielle Aspekt. «Eine Startgebühr kostet gut und gern mal 10 000 Euro, ein Wettkampf dauert meist über einen Monat», erklärt Christian Arnold. «Zu gewinnen gibts mal eine Flasche Wein», so seine Partnerin. Auch das Material im Wert von mehreren 1000 Franken sowie die Reisen bezahlen die beiden zum grössten Teil selbst. Ein paar langjährige Sponsoren unterstützen sie. Nicht nur deshalb ist für sie eventuell schon bald Schluss. «Die 50 Knoten wären das Tüpfelchen auf dem i. Sonst habe ich alles erreicht.»
Bis Ende 2025 will sie es noch versuchen. Dem Surfen wird sie so oder so treu bleiben. Auch ohne Jagd nach Rekorden. Vielmehr zieht es sie dann zu anderen schönsten Plätzen dieser Erde. «Nicht mehr jedes Mal bei 100 km/h Wind nach Südfrankreich, um ‹Sand zu essen›.»