Am Wochenende machte Anja Leuenberger, 27, öffentlich, dass sie vor ihren Zwanzigern zweimal vergewaltigt worden sei. In einem Interview mit «Blick» verriet sie, dass sie beim ersten Übergriff, der sich in einem Zürcher Club ereignete, gerade einmal 15 Jahre alt war.
Zum zweiten Mal vergewaltigt wurde die Aargauerin dann mit 18, als sie bereits in Los Angeles gearbeitet hat. «Dieses Mal war es jemand aus der Modeindustrie», erzählt Leuenberger. Es sei jemand gewesen, dem sie vertraut habe. «Er lud mich zum Abendessen ein, daraus wurde dann schnell etwas ganz anderes.»
Leuenbergers Geschichte rüttelt auf – und rückt ein offenbar weit verbreitetes Thema in den Fokus. Das Schema scheint klar: junge, bildschöne Frauen auf der Suche nach Erfolg, die sich in ähnlichen Machtstrukturen gefangen sehen, wie sie die #metoo-Bewegung vor einiger Zeit bereits laut anprangerte. Dass sich junge Frauen, manchmal Mädchen nicht wehren, hat einen einfachen Grund, wie das Model Tamy Glauser, 35, gegenüber «Blick» erklärt. «Viele haben Angst, sich mit einem Nein ihre Karriere zu verbauen. Das ist sehr schade. Denn ein gutes Model schafft es auch, ohne mit einem schmierigen Typen ins Bett zu gehen.»
Das Problem ist grossflächig, sagt Glauser. «Ich kenne kein einziges Model, das nicht schon mal einen sexuellen Übergriff erlebt hat», erzählt sie. «Vom Klaps auf den Hintern bis hin zur Vergewaltigung.» Solche Übergriffe seien im Model-Business immer noch an der Tagesordnung, sagt die Bernerin. Es kursiere in Model-Kreisen gar eine Liste mit Namen von übergriffigen Männern, die man meiden sollte. «Es gibt unter den Models eine Blacklist von Fotografen oder Casting-Agenten, die man sich weiterreicht. Wir wissen, mit welchen teilweise auch grossen Namen wir besser nicht arbeiten sollten.»
Auf dieser Blacklist dürften einige bekannte Namen stehen, von denen insbesondere im Laufe der #metoo-Debatte immer wieder zu lesen war. Denn das Problem ist leider nicht neu. Viel werden Frauen von Machtmissbrauch. Sie, «die weit weg von zu Hause und ohne ihre Eltern unterwegs sind», wie es Tanja Reist in der «Süddeutschen Zeitung» schrieb, «wie Nutzvieh zu behandeln», sei man sich gewohnt.
Die Vorwürfe sind bekannt - und zahlreich vorhanden. So erzählten mehr als 50 Models im «Boston Globe» ihre traumatischen Geschichten. Dasha Alexander etwa sagte, dass ein Fotograf bei ihrem ersten Testshooting mit 15 Jahren eine Kamera in der einen Hand gehalten und sie mit der anderen «digital penetriert» habe. Das würde, so die Begründung, die Bilder «sinnlicher» und «echter» machen.
Coco Rocha hingegen erlebte mit, wie ein Fotograf einen Orgasmus vortäuschte, als er ein Bild von ihr machte. Lenka Chubuklieva wurde mit 17 immer wieder von ihrem Agenten betatscht, von einem Fotografen aufs Bett geworfen und geküsst, ein anderer masturbierte vor ihr und setzte sie unter Druck, zum Wohl ihrer Familie in der Ukraine doch besser mitzuspielen.
Von den sexuellen Übergriffen betroffen sind auch männliche Models. So etwa klagte Robyn Sinclair in der «New York Times» einen Fotografen an. «Ich erinnere mich daran, wie er seine Finger in meinen Mund steckte und mir an meine Genitalien fasste.» Sie hätten nie Sex gehabt, aber «es sind viele Dinge passiert. Viele Berührungen. Viele Belästigungen.»
Der wies die Anschuldigungen in aller Form zurück. Er sei «total schockiert und tieftraurig über die ungeheuerlichen Vorwürfe», liess er in einem Statement verlauten.
Wie mehr als 50 Models gegenüber «Boston Globe» sagten, gehöre die sexuelle und finanzielle Ausnutzung von jungen Menschen in der Modebranche fast schon zur «Routine».
Dennoch wurden die Anschuldigungen lange nicht ernst genommen – erst mit der #metoo-Debatte hat sich das geändert, wie Coco Rocha der Zeitung sagte. Sie selbst hat über das Verhalten des Fotografen, der beim Shooting einen Orgasmus vortäuschte, erst gut zehn Jahre nach dem Vorfall gesprochen. Weil sie vorher nicht gehört worden wäre. Es gäbe «Menschen an der Spitze der Branche, die diese Geschichten zweifelsfrei während der letzten 20 Jahre gehört haben», sagte sie. «Und nichts gemacht haben.»
Die #metoo-Bewegung hat gezeigt, wie die Macht der Models in der Mehrzahl zunimmt. Umso mehr findet Tamy Glauser, dass Anja Leuenberger mit dem Namen des mutmasslichen Täters ebenfalls rausrücken müsste. Sie bezeichnet ihren Gang an die Öffentlichkeit zwar als «bewundernswert», wie sie gegenüber «Blick» sagt. Aber: «Ich finde es schade, dass Anja nicht sagt, wer ihr das angetan hat», verrät sie. «Sexualverbrecher in der Modebranche sind, wie solche im Filmbusiness, Serientäter. Würde sie den Täter nennen, hätten vielleicht auch andere seiner Opfer den Mut, an die Öffentlichkeit zu treten.»