Unstillbarer Appetit: Auch Götter haben ihn. Zumal Fussballgötter. Es ist nicht bloss ein Hunger nach Kalorien, nach körperlichen Genüssen. Es ist ein Hunger nach Anerkennung, nach der Liebe der irdischen Bewunderer-Gemeinde. Entstanden auf dem Weg von ganz unten in den Himmel und zurück. Während langer Jahre in der dünnen Luft der höchsten sportlichen Sphären.
Diego Maradona, der beste Fussballer der Welt, so das Ergebnis einer Fifa-Wahl im Jahr 2000. Stets wollte er nur Spieler sein, seit den Anfängen im argentinischen Dorf Villa Fiorito. «Ob vor 10 Zuschauern oder vor 100 000, das war mir egal», sagte er einst in einem Interview. «Ich wollte einfach nur Fussball spielen. Nirgends war ich so glücklich wie auf dem Rasen.» Und dort war Diego auch magisch wie kein anderer, vermutlich nicht einmal Pelé. Die Messi, Cristiano Ronaldo, Di Stéfano, Eusebio, Cruyff, Charlton — alles grossartige Spieler. Aber das Charisma von Diego erreichte keiner. Dass der reinsten Verkörperung einer Nummer 10 eine der offensichtlichsten Unsportlichkeiten der Fussballgeschichte — sein Hands-Tor an der WM 1986 gegen England — mit dem bewundernden Spitznamen «Hand Gottes» vergolten wurde, sagt eigentlich alles.
Ein göttlicher Heilsbringer wurde er spätestens in den sieben Jahren von 1984 bis 1991, als er Neapel aus der Depression zu zwei Meistertiteln und dem Gewinn des Uefa-Cups führte. Seine Technik, Dynamik, Verspieltheit, sein Selbstvertrauen und sein strategisches Genie berauschte zuerst den armen Süden Italiens und bald die ganze Welt. Und als er 1986 Argentinien zum WM-Titel führte, war sein Heiligenstatus vollkommen.
Der Preis indessen, den er für den Aufstieg bezahlte, war brutal. Seit dem Rücktritt als Spieler 1997 in seiner Heimat bei den Boca Juniors ging es steil bergab. Der argentinische Fussballjournalist und Soziologe Sergio Lewinsky, ein intimer Kenner Maradonas, führte für Argentiniens meistbeachtete Nachrichten-Website «Infobae» vor rund einem halben Jahr das letzte Interview mit dem berühmtesten aller 45 Millionen Einwohner des Landes. Seither schwieg Maradona. Vielleicht war es besser so, seine letzten Radio- und Fernsehinterviews gerieten zur Farce, er stotterte fast nur wirres Zeug in die Mikrofone. Am 30. Oktober feierte er seinen 60. Geburtstag, am 3. November wurde er wegen eines Blutgerinnsels im Gehirn operiert. Und nun, am 25. November, starb er an einem Herzstillstand.
Maradona konzentrierte sich zuletzt auf seine Trainertätigkeit beim einheimischen Erstdivisionär Gimnasia y Escrima la Plata. In der Nähe des Trainingsgeländes bewohnte er allein ein Haus und verliess es nur selten. Angeblich hatte er panische Angst vor dem Coronavirus. Nach zwei Herzinfarkten und als ehemaliger Drogenabhängiger war er besonders anfällig.
In La Plata, einer Stadt von der Grösse Basels im Süden des Grossraums Buenos Aires, fühlte sich Maradona wohl. Hier spielten Bevölkerung und Medien nicht verrückt, wenn «Dieguito» nur schon vor die Haustür trat. Und von hier waren es weniger als 60 Kilometer bis zu den Müllhalden von Villa Fiorito. Dort, wo er in einem kleinen Haus mit sieben Geschwistern als Sohn des Fabrikarbeiters Diego Senior und der Hausfrau Dalma aufwächst. Danach ist Maradona kaum mehr zurückgekehrt. Weshalb auch? Sein Vater verstarb 2015, seine Mutter vier Jahre früher. Seine Jugendfreundin Claudia Villafañe stammt aus dem gleichen schäbigen Viertel. 1989 heiratet das Paar und zeugt die Töchter Dalma und Giannina. Die Ehe wird zwar 2004 geschieden. Doch Diego und Claudia bleiben lange weiter befreundet. Sie hält auch dann zu ihm, als dessen Kokainsucht in Neapel längst Stammtischgespräch ist.
Dalma und Giannina, die fünf Jahre mit dem Fussballer Sergio Agüero von Manchester City liiert ist, liebt der Vater abgöttisch. «Seit ich denken kann, bin ich eine Figur der Öffentlichkeit und habe kein Problem damit», sagt Maradona einst. «Aber wenn ich mit meinen Töchtern zusammen bin, darf mich niemand stören.» Eine Touristin tut genau das während eines Ferienaufenthalts des Trios 2006 auf Polynesien. Maradona zieht der Frau kurzerhand ein Trinkglas über den Schädel. Es ist nicht das erste Mal, dass «el Pibe de Oro» (Goldjunge) auch gegenüber dem weiblichen Geschlecht handgreiflich wird. 2014 schlägt er seine damalige Lebensgefährtin Roció Oliva in Dubai in der Öffentlichkeit. Auch mit seiner ehemaligen Gemahlin und den Töchtern lag Maradona inzwischen über Kreuz. Er beschuldigte Claudia des Betrugs und der unrechtmässigen Bereicherung während der gemeinsamen Ehejahre. Diego missfiel zutiefst, dass sich Dalma und Giannina auf die Seite ihrer Mutter stellten.
«Seit ich denken kann, bin ich eine Figur der Öffentlichkeit und habe kein Problem damit. Aber wenn ich mit meinen Töchtern zusammen bin, darf mich niemand stören.»
Unter den Dutzenden von Büchern und Filmen über den Argentinier kommt wohl kein Beitrag der Wahrheit so nahe wie ein von Asif Kapadia gedrehter britischer Dokumentarfilm. Er erzählt Maradonas Karriere mit Fokus auf seine erfolgreichste Zeit bei der SSC Napoli. Der 2019 in Cannes uraufgeführte Film zeigt zahlreiche, teils bislang unveröffentlichte Filmsequenzen und Fotos sowie Aufnahmen aus dem Privatarchiv der Familie. Thematisiert wird auch Diegos Verbindung zur Camorra und seine Kokainsucht, von der er lange nicht loskommen sollte und die ihm eine 15-monatige Sperre durch die Fifa eintrug. Maradona — ein Fussballer und Mensch zwischen Genie und Wahnsinn.
Jeder hat seine eigene Wahrheit über Maradona. Der Autor dieses Artikels (der in Kolumbien lebt / Anm. d. Red.) lernt den vierfachen WM-Teilnehmer (1982—1994) 2001 als Fifa Publikationsverantwortlicher und Medienchef der U20-WM in Argentinien persönlich kennen. Er setzt sich ein Exklusivinterview mit Maradona für das «Fifa magazine» zum Ziel, wohlwissend, dass diesen gerade erhebliche gesundheitliche Probleme plagen, er mit Fifa-Präsident Sepp Blatter im Clinch liegt und für Mediengespräche bis zu 20 000 Dollar fordert. Er erinnert sich:
«Ich nahm Kontakt auf mit seinem damaligen Manager Guillermo Coppola, inzwischen wegen Steuerdelikten und Drogenhandels verurteilt. Nach monatelangem Hin und Her hätte das Interview zu Beginn der U20-WM stattfinden sollen. Es wurde schon ein halbes Dutzend Mal verschoben. Ich hatte es bereits abgehakt, als am Vortag des Endspiels mein Handy klingelte. Coppola war am anderen Ende der Leitung: «In einer halben Stunde bin ich mit Diego bei dir, und dann macht ihr das Interview.» Blatter stellte mir seine Suite im «Sheraton» für das Gespräch mit dem «Goldjungen» zur Verfügung. Diesen Namen hatte Maradona als Neunjähriger erhalten, als er mit den «Cebollitas» (Zwiebelchen), der Kindermannschaft von Argentinos Juniors, 136 Spiele lang unbesiegt geblieben war. Aus 30 Minuten Wartezeit wurden drei Stunden. In Maradonas Schlepptau waren sein langjähriger Leibarzt Alfredo Cahe sowie Coppola und ein junger Mann, der mir nicht vorgestellt werden sollte. In Blatters Suite angekommen, schritt Maradona sofort zum Schreibtisch, riss ein paar leere Seiten aus einem Notizblock und formte diese zu einem Papierknäuel. Daraufhin jonglierte er das unförmige Objekt mit den Füssen: links, rechts, links, rechts, links, rechts, immer und immer wieder. Der Knäuel fiel nie zu Boden. Ich traute meinen Augen nicht. Genial. Wahnsinn.
Fortan sprachen Maradona und ich über Gott und die Welt. Er war offen, selbstkritisch, humorvoll, interessant. Er sprach auch über seine Kokainsucht, er zeigte Reue, bat Familie und Fans um Verzeihung. Doch Maradona sah nicht gut aus. Er wirkte aufgedunsen und schwitzte unentwegt, obwohl es im Raum kühl war. Während des eineinhalbstündigen Gesprächs gönnte er sich bestimmt vier Glas Whisky-Cola, mit starker Betonung auf den alkoholischen Teil des Getränks. Zweimal unterbrach er das Interview, um gemeinsam mit dem jungen Mann für jeweils mehrere Minuten aus dem Zimmer zu verschwinden. Gegen Ende des Interviews fragte Maradona plötzlich: «Andreas, spielst du Fussball?» Ich bejahte. «Kannst du einen Ball auftreiben?» Ich sagte, ich hätte einen in meinem Büro unweit von Blatters Suite. «Dann hol ihn! Lass uns hier unten kicken.» Neben dem «Sheraton» befanden sich mehrere Kleinfelder. Coppola und Cahe, die dem Interview bislang teilnahmslos beigewohnt hatten, schossen aus ihren Sesseln. Sie merkten, dass es Maradona ernst war. Er wollte tatsächlich mit mir «tschüttele». Cahe bat Maradona fast auf Knien, auf den Kick zu verzichten: «Diego, denke an dein Herz, bitte!» Sichtlich verärgert liess Maradona schliesslich davon ab.
Wenig später beendeten wir das Gespräch. Ich bat Maradona noch um ein Autogramm für meinen Sohn. Auf der Liftfahrt Richtung Hotelempfang fragte er, was ich denn nun mit seiner Unterschrift anstellen würde. Ich antwortete scherzhaft, im Wissen um seine Abneigung gegenüber Pelé: «Ich hänge sie im Zimmer meines Sohnes unterhalb des Autogramms des grössten Fussballers aller Zeiten hin, jenes von Pelé.» Maradona schaute mich verwundert an, blickte zu Coppola und sagte: «Ich schwöre dir, ich bringe diesen Schweizer um!» Schallendes Gelächter im Aufzug. Wochen später, das Interview war inzwischen erschienen, rief mich Coppola an. Diego wolle mich sprechen. Er reichte das Telefon weiter, und Maradonas unverkennbare Stimme meldete sich. Ihm hätte das Interview sehr gefallen und er hätte viele positive Reaktionen darauf erhalten: «Als Dank dafür lade ich dich zu meinem offiziellen Abschiedsspiel ein.» Die Partie fand wenig später in Buenos Aires statt — ohne mich. Maradona hatte zuvor Blatter und die Fifa in den Medien wieder einmal verunglimpft, was den Präsidenten dermassen erzürnte, dass er seine Reise nach Argentinien absagte — und meine ebenso.
Diego Maradona, warmherzig, humorvoll. Nur war da auch die andere Seite seiner Person. Die zahllosen Fehltritte abseits des Rasens, die Drogensucht, seine Nähe zur neapolitanischen Mafia, körperliche Gewalt, Steuerhinterziehung, positive Dopingkontrollen, mindestens sieben uneheliche Kinder mit mindestens vier Frauen. Millionen verprasst, falschen Freunden auf den Leim gegangen, gutgläubig, bösartig, ein Freund von Fidel Castro und Unterstützer des venezolanischen Despoten Nicolás Maduro. «Ich habe viele Fehler gemacht und viele Menschen enttäuscht», gesteht Maradona in jenem Interview in Buenos Aires.«Aber ich habe dafür gebüsst und bin kein Monster.»
Für die meisten seiner Landsleute sei Maradona Legende und Mythos zugleich, sagt Journalist Lewinsky. Für viele bleibt er wie ein Heiliger. In Rosario wurde vor Jahren die Iglesia Maradoniana (Kirche des Maradona) gegründet. Ihre Gläubigen bezeichnen Maradona als Gott. Wenn «Dieguito» dereinst das Zeitliche segne, so Lewinsky, werde die landesweite Trauer ungleich grösser sein, als sie es beim Tod der Präsidentengattin und Schauspielerin Evita Perón war. Nun ist das eingetroffen.
Bereits einmal war er vermeintlich tot, vor 20 Jahren. Damals hängt Maradonas Leben nach einem schweren Herzinfarkt im uruguayischen Badeort Punta del Este am seidenen Faden. Der argentinische Fernsehsender Crónica wähnt die Ikone bereits tot und lässt das Fernsehbild während 24 Stunden schwarz, versehen mit einem einzigen Wort: «murió» (gestorben). Es ist nicht nötig, den Namen des angeblich Verblichenen anzufügen. Jeder weiss, wer gemeint ist.
Wenn das Fernsehbild heute schwarz bleibt, gibt es keine Auflösung mehr.