Radsport, Tour de Suisse, Radrennen, Etappe von Aesch nach Grenchen, 14.06.2021
Es wäre zu hoch gegriffen, würde man behaupten, die Tour de Suisse beherrsche die Schweiz. Aber dort, wo die Tour de Suisse auftritt, bildet sie doch für ein paar Augenblicke den Mittelpunkt des Weltgeschehens und ist den meisten Leuten am Strassenrand wichtiger als die Wahl der Schweiz in den Uno-Sicherheitsrat, die AHV-Revision oder das Thronjubiläum der Queen. Die Tour de Suisse ist das einzige Sportereignis, das zu den Menschen nach Hause kommt.
«Die Tour bringt unbezahlbare Standortwerbung für die ganze Region» Alex Kaufmann, OK-Chef Grenchen
Am vergangenen Montag beispiels-weise in Aesch BL. Obwohl der erste Wochentag für Festanlässe nicht sonderlich beliebt ist, scheint der ganze Ort auf den Beinen. Die Ettinger- strasse, wo die Ziellinie den Asphalt zum radsportlichen Epizentrum veredelt, ist die grösste Fanmeile der Schweiz. Dominik Häring, Präsident des lokalen OK, hat eine «Riesenfreude ob dem tollen Wetter und den rund 8000 Zuschauern». Die Erwartungen seien deutlich übertroffen worden: «Man spürt, dass die Menschen nach der Pandemie wieder feiern wollen.» In Feierlaune sind auch die hiesigen Schüler. Dank der Tour de Suisse erhielten sie frei. «Von mir aus könnte die Tour de Suisse jeden Tag vorbei- kommen», sagt Finn.
Voll des Lobes ist auch Tour-General- direktor Olivier Senn. Die Begeiste- rung für den Radsport sei in der Velo- region Baselland spürbar. Und die Topografie ermögliche attraktive Ren- nen: «Ob Flachetappe, hügelig oder steile Anstiege – die Region bietet für den Radsport wirklich alles.»
Gleicher Meinung sind Lucas und Joachim schon seit Jahren. Die beiden Studenten aus Basel machten es sich am Strassenrand in ihren Gartensesseln gemütlich, prosten sich mit einem Gläschen Rosé zu: «Ein Hoch auf den Radsport – er verbindet die Menschen und bringt die grosse Sportwelt in die Dörfer.» In diesem Moment braust das Feld mit über 60 Stundenkilometern vorbei. Der Fahrtwind hätte um ein Haar den Kartonteller mit den Nüssli der beiden Fans fortgeblasen.
Belgische Legende: Eddy Schepers verfolgt die Tour im Camper. |
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Joachim stammt aus Deutschland – und ist damit repräsentativ für die Stammgäste an der Tour de Suisse. Die Nummernschilder der vielen Wohn- mobile am Strassenrand stehen für die Internationalität des Ereignisses: D für Deutschland, GB für Grossbritannien, DK für Dänemark, NL für Nieder- lande und vor allem B für Belgien. Aus der Heimat des unvergesslichen Eddy Merckx kommt nicht nur der Grossteil der ausländischen Radsport-Touristen, sondern mit Remco Evenepoel auch einer der meistgenannten Favoriten.
Wegen ihm sind die alten Rennfahrer Eddy Schepers und Jan Nolmans in die Schweiz gereist. Schepers kennt unser Land «wie die eigene Westentasche». 1985 gewann er eine Etappe der Tour de Romandie. Mit seiner Ehefrau Karin freut er sich schon jetzt auf den Abstecher ins Tessin: «Ich habe gehört, dass ein Teil der Etappe über die WM-Strecke von 1971 in Mendrisio führt.» Die Kinder am Strassenrand interessieren sich freilich nicht für solche Details. Sie warten sehnlichst auf die Werbekolonne, die alles verteilt, was man zwei Tage später nicht mehr braucht: blaue Kappen, weisse Umhängetaschen und Bonbons.
Derweil mahnt der Wagen der Sicherheitsequipe die Zuschauer zur Vorsicht: «Hunde sind an der Leine zu halten, achten Sie auf Ihre Kinder.» Wenig später verkündet Tourspeaker Georges Lüchinger: «Der fliegende Norweger Andreas Leknessund ist eine Minute vor dem Feld: O läck du miär!» Am Strassenrand freuen sich Sabina und Marianna, dass «in Aesch endlich wieder mal etwas los ist». Sabina sagt, dass sie die Tour das letzte Mal live erlebt habe, als sie noch in die Schule ging. Das war vor rund 40 Jahren.
Lange gewartet hat man auch in Grenchen – geschlagene 48 Jahre.
OK-Präsident Alex Kaufmann sagt la- chend: «Damals gewann Deutschland die Fussball-WM.» Eigentlich habe diese Ankunft schon 2020 stattfinden sollen. Doch dann kam die Coronapandemie. Umso glücklicher ist Kauf- mann, dass es nun kurzfristig als Ersatz für einen ausgefallenen Ort geklappt habe. Er spricht «dank den TV-Bildern von unbezahlbarer Standortwerbung für die ganze Region». Stadtpräsident François Scheidegger hofft, mit diesem Anlass das Image von Grenchen als «Velostadt» zu stärken: «Der Radsport ist absolut identitätsstiftend – für unsere Region und für das ganze Land.» Dabei erinnert er auch an den 2018 verstorbenen BMC-Besitzer Andy Rihs: «Er wäre stolz auf diesen Moment.» So war der Besuch der Tour de Suisse quasi eine Reise in die Vergangenheit. «Eine Begeisterung wie früher» spürte auch Urs Freuler. Der Glarner, zu sei-
ner Aktivzeit der schnellste Sprinter der Welt, sagt: «Sobald es wieder zwei, drei einheimische Fahrer wie Küng, Hirschi oder Mäder gibt, die vorne mit- mischen, lässt sich das Volk schnell begeistern.»
Und auch das Wetter spielt mit. So finden die Tausenden Liter Bier und Mineralwasser im grossen Festzelt reissend Absatz. Etwas unzufrieden ist nur der sechsjährige Philipp aus Solothurn. Er strampelte im Kids Race haarscharf an einer Medaille vorbei. Als er im Tour-Village dann aber fünf Käppli, zwei Bonbons und drei Fähnli erhält – und in einem Wettbewerb eine Flasche Limonade gewinnt –, ist seine Welt wieder in Ordnung. Philipp ist seit dieser Woche ein begeisterter Fan der Tour de Suisse. Und hofft nichts sehnlicher, als dass das bunte Fahrerfeld mit den hupenden Autos schon bald wieder durch die Gegend braust.