Nachdem Victoria Beckham am 4. März 1999 Sohn Brooklyn auf ärztlichen Rat per Kaiserschnitt zur Welt gebracht hat, spottet eine britische Boulevardzeitung, die Sängerin sei in Anlehnung an ihren Spitznamen Posh Spice wohl «too posh to push» gewesen; zu vornehm, um zu pressen. Mehr als dieser Hohn, so erzählt sie in der aktuell viel beachteten Netflix-Dokuserie «Beckham», trüben damals jedoch Morddrohungen gegen Ehemann David und Gerüchte um eine geplante Entführung des Babys ihr Mutterglück. «Es war unglaublich bedrückend, wir hatten das Gefühl zu ertrinken», so die 49-Jährige. David hat damals ebenfalls panische Angst um sein Kind, aber auch noch den Kopf für andere Dinge. Kurz bevor ein Fotograf ins Krankenzimmer geladen wird, um die Jungfamilie abzulichten, bittet David seine von der örtlichen Betäubung unterhalb des Bauchnabels noch erschöpfte Frau, ihm schnell die Haare zu richten.
Victoria kann heute über diese Episode schmunzeln. David Beckham (48) hat aus seiner Eitelkeit ja nie einen Hehl gemacht. Interessant ist die Geschichte aber nicht nur, weil sie viel über die einst auf der Insel stark ausgeprägte Hassliebe gegenüber den Beckhams sowie über die grosse Bedeutung von Schein und Oberfläche in ihrem Leben aussagt. Sie verdeutlicht auch die entscheidende Rolle von Victoria in Davids Aufstieg zur Weltmarke. Ohne ihren Sinn für Styling und die gekonnte Pose – sie hatte Modelling und Tanz studiert – wäre aus Beckham kaum der Glamour-Gentleman geworden.
Die Netflix-Bilder aus seiner Jugend zeigen ihn als ganz normalen Jungen, der brav seinen Traum lebt. Vater Ted ist Heizungsmonteur aus Leytonstone, einem langweiligen Arbeitervorort von London, und wie Mutter Sandra fanatischer Anhänger von Manchester United. Beckham bekommt dort mit 14 einen Ausbildungsvertrag und schafft fünf Jahre später mit einem Weitschusstor von der Platzmitte gegen Wimbledon seinen Durchbruch bei den Profis. United ist damals der grösste Klub Englands, David Teil eines Teams, das an die legendären, bei einem Flugabsturz in München verunglückten «Busby-Babes» aus den 50er-Jahren erinnert. Seine Mittelscheitelfrisur wird bald millionenfach nachgeahmt.
Kickende Popstars wie ihn hat es zuvor schon einige in Grossbritannien gegeben; in keinem anderen Land Europas bestimmen Fussball, Musik und Mode als heilige Dreieinigkeit der Popkultur in diesem Mass den öffentlichen Raum. Beckham aber wird zur nationalen Attraktion, weil er 1997 mit einer Frau zusammenkommt, die zigfach berühmter ist als er zu jener Zeit. Die Spice Girls sind damals die erfolgreichste Girlband der Welt.
Victoria Adams kommt aus gut situiertem Elternhaus aus Hertfordshire, eine Stunde nördlich von London. Ihr Vater fährt sie mit dem Rolls-Royce zur Schule. Sie hat ein Faible für Luxus und das dazugehörige Geld. Man kann buchstäblich zusehen, wie die tägliche Berührung mit dem Showbiz auf Beckham abfärbt. Er trägt auf Victorias Wunsch plötzlich blonde Strähnen in den Haaren und tritt gern im Partnerlook mit ihr auf. In jenem prädigitalen Zeitalter wird Berühmtheit noch in Magazin-Covern gemessen, nicht in Klicks. Mit ihren dauernd wechselnden Frisuren und Outfits avancieren die Beckhams zur perfekten Content-Maschine, die die öffentliche Sehnsucht nach herrschaftlicher Romantik stillt. Kein Zufall, fällt ihre Amtszeit als Königspaar der Klatschblätter in die Jahre nach dem Tod von Prinzessin Diana.
Beckham ist Ken und zunehmend auch Barbie. Er lackierte sich die Fussnägel, trägt Wickelrock und lange Haare, gibt sich «metrosexuell» und wird damit zur Ikone der Schwulen – und das in einer Zeit, in der die sogenannten Lads-Magazine den spätpubertären Ton angeben, Blätter mit vielen dürftig bekleideten Mädchen.
Ein Backlash ist da praktisch vorprogrammiert. Er kommt, als Beckham im WM-Achtelfinal 1998 gegen Argentinien vom Platz fliegt und so das Aus des Nationalteams einleitet. Es folgen besagte Morddrohungen, eine Zeitung veröffentlicht eine Darts-Zielscheibe mit seinem Konterfei, und in den Stadien singen Zigtausende beleidigende Lieder über Victorias angebliche sexuelle Vorlieben. Beckham lässt in der Doku durchblicken, dass er damals nahe an der Depression stand.
Seine fussballerischen Fähigkeiten verschaffen ihm die Rehabilitation. Er gewinnt 1999 die Champions League und schiesst 2001 ein wichtiges Tor, um England für die WM zu qualifizieren. Aber den Verdacht, dass sich seine Prioritäten aufgrund der Ehe mit Victoria weg vom Sport verschoben haben, kann er nicht mehr zerstreuen. Für seinen Vereinstrainer und väterlichen Förderer Alex Ferguson ist es die uralte Geschichte einer Frau, die den Mann vom Kurs weglockt.
Nach seinem Wechsel zu Real Madrid 2003 wird Beckham zum «ersten postmodernen Fussballer», wie Real-Präsident Florentino Pérez sagt, Leistung und Wirkung entkoppeln sich immer mehr. Sein Umzug nach Los Angeles vier Jahre später ist ebenfalls ein gut kalkulierter Schritt der Selbstvermarktung, der bereits aufs Karriereende schielt. Heute ist «Becks» erfolgreicher Besitzer des Fussballklubs Inter Miami, bei dem Lionel Messi spielt.
Victoria Beckhams gleichnamiges Modelabel ist international angesehen, aber auch hoch verschuldet. Was sich angesichts eines geschätzten Gesamtvermögens von 350 Millionen Pfund (380 Mio. Franken) verschmerzen lässt.
Die Beckhams, das zeigt die grosse Resonanz der Doku, sind auch mit Ende 40 eine hochprofitable Mini-Unterhaltungsindustrie. Die beiden Geschäftsführer pflegen in ihrer Villa in Holland Park (West London) einen liebevollen, bisweilen auch angenehm selbstironischen Umgang miteinander und mit ihren vier Kindern Brooklyn (24) Romeo (21) Cruz (18) und Harper (12).
Einmal sehen wir Beckham einen von Hunderten Kleiderhaken in der Garderobe um einen Millimeter zurechtrücken. Er leidet nach eigenen Aussagen an Zwangsstörungen, was Ordnung und Symmetrie angeht. Nicht nur diese Szene deutet an, wie stark noch jedes letzte Detail der Doku von den Beckhams kontrolliert wurde. In diesem Bild sind keine grösseren Risse vorgesehen. Kontroverse Themen wie Beckhams Botschafterrolle für Katar, wo Homosexualität unter Strafe steht, kommen gar nicht vor. Oder sie werden wie seine angebliche Affäre mit der Niederländerin Rebecca Loos während seiner Zeit in Spanien so inszeniert, dass David und Victoria als Opfer der niederträchtigen Medienberichterstattung erscheinen.
Letztlich vergrössert das Gefühl, nur die halbe Wahrheit erfahren zu haben, das Faszinosum jedoch weiter. Je stärker sich die Beckhams als Musterfamilie präsentieren, desto grösser das Verlangen, einen Blick hinter den purpurnen Vorhang zu erhaschen. Netflix hat die Dynamik verstanden: Eine eigene Serie für Victoria ist bereits in Arbeit.