Allein schon die Tatsache, dass Jagger mit fünf Frauen acht Kinder gezeugt hat – das letzte vor sechs Jahren –, spricht für die These des Sexsymbols. Der jüngste Spross Deveraux Jagger wird im Dezember sieben Jahre alt.
Dass Mick Jagger von der britischen Königin vor 20 Jahren in den Adelsstand erhoben wird und sich seither Sir Mick nennen darf, ärgert Bandkumpel Keith Richards und führt fast zur Auflösung der Rolling Stones. «Das ist es doch wohl nicht, wofür die Rolling Stones stehen, oder?», lässt sich der Gitarrist und Co-Songschreiber vom «Independent» zitieren. «Das ist eine armselige Scheiss-Ehrung. Mit so jemandem habe ich keine Lust mehr, auf einer Bühne zu stehen, der ein Krönchen aufhat und sich mit Hermelinkragen rausputzt.» Richards überlegte sich, die Stones platzen zu lassen. Es kommt zum Glück nicht so weit, die beiden blieben dicke Freunde. Richards’ Schadenfreude am Rande: Den Ritterschlag erhält Jagger nicht von Queen Elizabeth persönlich, sondern vom Thronfolger und heutigen König Charles III.
Herzoperation und posttraumatischer Stress
Die jahrelange Plackerei auf vielen Welttourneen hinterlässt selbst beim zuletzt sehr sportlich und seriös lebenden Mick Jagger ihre Spuren. Eine Herzoperation 2019 sowie eine längere Auszeit wegen posttraumatischem Stress aufgrund des Suizids seiner Freundin L’Wren Scott 2014 machen dem einstigen Macho zu schaffen. Doch selbst der Krebstod von Stones-Schlagzeuger und Jagger-Freund Charlie Watts im August 2021 bedeutet nicht das Ende der «härtesten Rockband der Welt» (die Stones über die Stones).
Mick Jagger traf ich erstmals in Montreux. Die Rolling Stones bereiteten sich 1972 auf ihre US-Tournee vor und probten an den Gestaden des Genfersees in einem Kino. Zwei «Bravo»-Reporter, Good-News-Gründer Peter Zumsteg und der damalige Montreux-Pressechef Willy G. Kern bekamen vom Stones-Management durch Claude Nobs die unglaubliche Einladung, bei den Proben dabei sein zu dürfen. Es war das wohl intimste Stones-Konzert jemals. Und das längste. Um elf Uhr nachts begannen sie zu jammen, um sieben Uhr morgens bekamen die Akteure Hunger.
Mick Jagger, Keith Richards, Charlie Watts, Bill Wyman und Gitarrist Mick Taylor, der den 1969 verstorbenen Brian Jones ersetzte, sowie Pianist und Chef-Roadmanager Ian Stewart («der sechste Stone») wollten frühstücken. Ich hatte fünf Exemplare der neusten Ausgabe der Zeitschrift «Pop» dabei, für die ich damals als Redaktionsleiter tätig war, für jeden Rolling Stone eines. Schöner Zufall, dass auf dem Titelbild eine heisse Liveaufnahme des Stones-Bosses prangte. Ich zeigte Jagger die fünf Hefte. Schwups, verschwanden alle unter seinem Arm. «Wollt ihr mit uns zum Champagnerfrühstück ins Palace-Hotel kommen?», fragte Jagger freundlich. Und wie wir wollten.
«Kaum zu glauben: 1967 spielten wir im Hallenstadion für bloss 10 000 Dollar»
Mick Jagger gab die Hefte nicht mehr aus der Hand, zeigte sie nicht mal seinen Bandkumpels. Ein kleiner Vorgeschmack des grossen Egos des grossen Mick. Für ein Interview freilich war er dann trotzdem nicht zu haben. «Ich bin hundemüde, sorry!» Und weg war er. Watts und Wyman zuckten mit den Schultern. «So ist er halt.» Ein Jahr später, im September 1973, rockten die Stones im Rahmen ihrer Europa-Tournee die Festhalle Bern. Im Vorprogramm: Keyboarder Billy Preston, der auch auf vielen Stones-Platten mitspielte.
Ein Jagger-Interview war nicht vorgesehen, aber eines mit Preston. Willy Bischof und Ruedi Kaspar vom Schweizer Radio waren vor mir dran, ich sass als Mithörer dabei. Plötzlich ging mitten im Interview die Tür auf. Mick Jagger trat ein. «Lasst euch nicht stören, ich möchte nur ein bisschen hören, was ihr so fragt.» Jagger lümmelte sich lasziv auf einem Stuhl neben mir. Irgendwann machte er eine Bemerkung. Wir nahmen den Ball auf und stellten Gegenfragen. Doch das mochte der Boss dann doch nicht. «Das ist ein Billy-Preston-Interview.» Preston selbst meinte am Schluss, auf Jagger angesprochen: «Das ist seine Manie, er muss immer wieder seine Nase irgendwo reinstecken. Er ist zwar ein liebenswürdiger Chef, aber auch ein totaler Kontrollfreak, aber das wissen alle im Tour-Tross.»
1998 traten die Stones im Rahmen des Out in the Green auf, heute das Openair Frauenfeld. Auf einer eigenen Giganto-Bühne ging deren Mega-Show am Donnerstag des viertägigen Festivals vor 60'000 Fans über die Bühne. Am Nachmittag bekamen Journalisten und Mitarbeiter der Stones-Plattenfirma die Möglichkeit, die Herren Rolling Stones zu treffen. Ich hatte den Originalvertrag ihres ersten Schweizer Konzerts von 1967 im Hallenstadion dabei, den mir der damalige Veranstalter Hans-Ruedi Jaggi vor seinem Tod übergeben hatte. Eine Kopie davon schenkte ich Jagger. Der staunte nicht schlecht, denn der Vertrag war gerade mal zwei A4-Seiten lang. «Hey, Keith, das musst du sehen», rief er euphorisch. «Fuck, kaum zu glauben, wir spielten für bloss 10'000 Dollar.» Was Jagger vergass: Der Dollar war damals noch fast vier Franken wert.
80 Jahre mit Rock ’n’ Roll, Drugs und Sex, eine Verhaftung, eine Verurteilung, acht Kinder von fünf Frauen, Mick Jagger hat sein Leben gelebt – als Sexsymbol und als Superstar. Trotz Herzoperation spult der ewige Jagger auf der Bühne noch immer seine Kilometer ab. Kein Gramm Fett am drahtigen Körper, kein graues Haar, das Gesicht zwar runzlig wie ein Faltenhund, die Lippen aber noch so schmollig aufgeplustert wie die auf dem Zungen-Logo der Rolling Stones. That’s Rock ’n’ Roll, but we still like it. Auch wenn die Rolling Stones in den letzten drei Jahrzehnten musikalisch nicht mehr allzu viel zu sagen hatten: Ihr Ruf als Rebellen ist geblieben. Auch wenn Mick Jagger längst zum Establishment gehört.