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Weibliche Genital­beschneidung

Der Kampf der «Wüstenblume»-Autorin Waris Dirie

Sie engagiert sich seit Jahrzehnten gegen die weibliche Genital­beschneidung. Bei ihrem Besuch in der Schweiz spricht Nomadentochter und Autorin Waris Dirie über Erschöpfung, Verzeihen und Muttersein.

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Foto: Joseph Khakshouri 13.06.2023Interview mit Model und Menschenrechtsaktivistin Waris Dirie Bad Ragaz (SG)

«Ich habe mich gegen die Dunkelheit und für das Licht entschieden»: Waris Dirie im Park des Grand Resorts Bad Ragaz SG.

Joseph Khakshouri

Als Erstes reisst Waris Dirie die Fenster des Hotelzimmers auf und macht die Klimaanlage aus. «Viel zu kalt hier drin, ich bin ein Wüstenkind», ruft sie und zieht den Reissverschluss ihres Kapuzenjäckchens hoch. Die 57-Jährige kommt etwas verspätet zum Fototermin mit der Schweizer Illustrierten im Grand Resort Bad Ragaz, weil sie auf dem Weg zum Zimmer immer wieder aufgehalten wurde – von Gästen, die ihr zu ihrer Rede am Vorabend gratulieren wollten.

An der Konferenz des Frauennetzwerks League of Leading Ladies hat Waris Dirie vor 200 Frauen darüber gesprochen, wie man ein Trauma dazu nutzen kann, um anderen zu helfen. Nun, was ihr widerfahren ist, weiss die ganze Welt – oder zumindest die zwölf Millionen Leserinnen und Leser, die ihre Autobiografie verschlungen haben. In «Wüstenblume» – 1998 erschienen – erzählt Dirie, wie sie als zwölfjähriges Nomadenmädchen mutterseelenallein durch die somalische Wüste flüchtet, weil sie mit einem alten Mann verheiratet werden soll; wie sie in London als Dienstmädchen schuftet und als Model entdeckt wird; wie sie 1997 erstmals öffentlich über ihre Genitalbeschneidung spricht und damit ein weltweites Medienecho auslöst. Bis heute kämpft Waris Dirie mit ihrer Stiftung Desert Flower gegen die Beschneidung von Mädchen. Sie sammelt Spenden, baut Schulen in Afrika, hält Vorträge vor Unternehmen und politischen Organisationen

Waris Dirie, 25 Jahre ist es her, seit «Wüstenblume» erschienen ist. Mögen Sie überhaupt noch über das Erlebte sprechen?
Es ist extrem erschöpfend. Täglich setze ich mich für ein Thema ein, das es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. Genitalbeschneidung ist ein Verbrechen! Und doch ereilt dieses Schicksal noch immer Millionen von Mädchen. Ihre Geschlechtsteile werden teilweise oder ganz entfernt, ohne Narkose, sterile Instrumente und Wundversorgung. Ich kann nicht verstehen, warum die Welt nicht genauso entsetzt darüber ist, wie ich es bin. Niemand kann heute noch behaupten, nicht zu wissen, was Genitalbeschneidung ist.

Das war 1997, als Sie erstmals öffentlich darüber sprachen, anders …
Damals realisierte ich: Niemand hat je davon gehört! Und ich fragte mich: Wenn nicht ich darüber spreche, wer tut es dann? Natürlich hat sich in den letzten 25 Jahren einiges getan. Aber ich will die weibliche Genitalbeschneidung komplett ausrotten! Und davon sind wir noch weit entfernt. Das westafrikanische Sierra Leone etwa hat noch immer kein Gesetz gegen dieses grausame Ritual erlassen. Wenn ich die Politiker dort anflehe, endlich etwas zu tun, schauen sie mich an, als sei ich eine Verrückte.

Auch in der Schweiz sind schätzungsweise 22 000 Mädchen und Frauen betroffen. Wie ist das möglich?
Das hat mit der Immigration zu tun. Zuwanderinnen und Zuwanderer legen ihre Sitten und Gebräuche nicht so einfach ab, nur weil sie in ein anderes Land kommen.

Was können wir tun?
In der Schweiz fehlt die Kontrolle. Jedes Einwandererkind müsste auf seine Unversehrtheit geprüft werden. Man weiss nie, was in den Familien vor sich geht. Weiter braucht es strenge Gesetze, harte Urteile, Aufklärung und vor allem: Bildung. Je mehr Bildung, desto besser die Welt!

Interview mit Model und Menschenrechtsaktivistin Waris Dirie Bad Ragaz

Im Namen der Freiheit: Waris Dirie im Hotelpark des Grand Resorts Bad Ragaz SG.

Joseph Khakshouri

Waris Dirie ist eine Frau, die einen Raum für sich einnimmt. Wenn sie mit ihren regenbogenfarbenen Crocs durch das luxuriöse Interieur des Hotels spaziert, dann drehen sich die Leute nach ihr um. Die Somalierin (mit österreichischem Pass) bewegt sich mit einer Mischung aus eleganter Dame und lässigem Dandy, spricht laut und ungestüm, fragt fast lieber, als dass sie antwortet, sagt geradeheraus, was ihr gefällt (der Duft von Lavendel) und
was nicht (wenn jemand sie kritisiert). Wer über sie bestimmen will, wird es schwierig mit ihr haben. Andererseits ist genau dieser starke Wille einnehmend und inspirierend.

Nun will Dirie im Hotelpark weitersprechen, barfuss läuft sie durch den Rasen und fährt sich dabei durch die krausen Haare: «Furchtbar», sagt sie, «wie Schafwolle – aber meine Mutter hat genau die gleichen, ich habe so einiges von ihr geerbt.» Dirie war fünf, als sie in der somalischen Wüste beschnitten wird. Ihre Mutter hält sie dabei fest, weil sie überzeugt ist: Allah will es so, nur ein beschnittenes Mädchen kann eine reine und treue Ehefrau werden.

Waris Dirie Bad Ragaz

Seit 25 Jahren kämpft Waris Dirie gegen weibliche Genitalbeschneidung, von 1997 bis 2003 auch als UN-Sonderbotschafterin.

Joseph Khakshouri

Heute werden Sie von Ihrer Mutter im Kampf gegen die weibliche Genitalbeschneidung unterstützt. Wie haben Sie es geschafft, ihr zu verzeihen?
Natürlich fühlte ich Schmerz und Wut, weil sie diese schreckliche Folter zuliess. Aber warum sollte ich Sachen mit mir herumtragen, für die ich nicht verantwortlich bin? Wenn dich jemand verletzt: Denke nicht an Rache, warte nicht auf eine Entschuldigung. Nutze deine Energie für die wirklich wichtigen Sachen im Leben! Um frei zu sein, muss man vergeben und vergessen. Verzeihen ist der stärkste Akt der Liebe. Und nur die Liebe bewegt Menschen dazu, Gutes füreinander zu tun.

Sie selbst haben zwei Söhne, Alekee ist 26, Leon 14. Was sind Sie für eine Mutter?
Sagen wir es so: Ich gebe mein Bestes. Aber besonders wichtig ist mir, dass sie Frauen respektieren. Ich sage ihnen stets: «Wenn du eine Frau schlecht behandelst, dann behandelst du auch mich schlecht.» Aber ich habe wirklich zwei coole Typen. Und das sage ich nicht nur, weil ich ihre Mutter bin.

Wie können Sie abschalten?
Beim Malen! Dann verlasse ich diese Welt und lande auf meinem eigenen Planeten, wobei ich gar nicht so recht weiss, was ich tue. Malen ist für mich pure Freiheit.

Waris Diries Bilder sind bunt, ja voller Lebenskraft. Gleichzeitig verstecken sich darin subtile Referenzen an ihre traumatische Kindheit. Dirie sagt: «Heute geht es mir gut, und ich bin verdammt perfekt, so wie ich bin.» Und doch lässt sie ab und an durchscheinen, wie sehr ihre Wurzeln sie geprägt haben. Etwa als sie erzählt, wie sie in der Sauna des Hotels lag und draussen eine Dusche rauschen hörte – minutenlang. Sie sei aufgestanden und habe dem Mann befohlen, die Dusche sofort abzustellen. «Ich halte es nicht aus, wenn jemand Wasser verschwendet», erklärt sie. «Weil ich nie vergessen werde, wie es sich anfühlt, tagelang ohne Wasser zu sein.»

Von Michelle Schwarzenbach am 1. Juli 2023 - 18:00 Uhr