Es gibt ein Zitat des Comic-Charakters und Bösewichts «The Joker»: «Before you judge make sure you’re perfect.» Bevor du urteilst, sei dir sicher, dass du perfekt bist. Der «Joker», mal Psychopath, mal verbitterter Aussenseiter und gekränkter Clown, ist in diversen Büchern und Verfilmungen der Gegenspieler von Batman, dem Superhelden, dem Hüter des Guten und Wächter über Gotham City. Die fiktive Stadt ist angelehnt an New York City. In der Millionenmetropole wurde diesen Spätsommer auch ein Kapitel von Gut und Böse geschrieben. Oder zumindest darüber geurteilt, was böse ist. In der Hauptrolle: Novak Djokovic. Seit Jahren mitunter bekannt als «Der Djoker».
In Flushing Meadows wurden die US Open in diesem Jahr in einer sogenannten Blase abgehalten, wo die Spieler und Coaches abgeschirmt von der Aussenwelt vom Hotel zum Stadion und zurück pendelten, um einen neuen Champion zu küren. Nach dem verletzungsbedingten Fehlen von Roger Federer und der Absage Rafael Nadals, der in der Pandemie die Sicherheit über die Show stellte, waren die Organisatoren froh um Djokovic. Dass zumindest einer der drei Superstars als Leuchtturm medial um die Welt strahlen würde.
Aber der Plan geht nur bis zu den Achtelfinals auf, als Djokovic nach einem verlorenen Aufschlagspiel gegen den Spanier Pablo Carreño Busta genervt Richtung Spielerbank stapft und einen Ball aus dem Unterarm und ohne viel Kraft hinter die Grundlinie schlenzt. Er trifft eine Linienrichterin dabei am Hals. Sie geht zu Boden. Den Offiziellen bleibt gemäss Regelwerk keine andere Wahl, als Djokovic zu disqualifizieren. Weil er den Ball zwar unabsichtlich, aber «rücksichtslos und in Missachtung der Konsequenzen» wegbefördert. Alles läuft korrekt ab. Die Disqualifikation einerseits, Djokovics Entschuldigung bei Linienrichterin, Turnier und Fans andererseits.
Die darauf folgenden Schlagzeilen sind im Gegensatz zum Ball gezielt, voll auf den Mann sozusagen. Vielleicht hätte es für eine gemässigte Einschätzung gut getan, etwas im Archiv zu stöbern. Und sich beispielsweise den Fall von Serena Williams von 2009 noch einmal vor Augen zu führen. In ihrem Halbfinalspiel gegen die Belgierin Kim Clijsters meldet die Linienrichterin wiederholt einen Fussfehler der Amerikanerin. Williams geht auf sie zu, hält ihr den Ball ins Gesicht und sagt: «Wenn ich könnte, würde ich dir den verdammten Ball in den verdammten Hals stopfen.» Die Konsequenz? Ein Punktabzug. Dumm nur für Williams, dass dies bei Matchball Clijsters geschieht und sie so ausscheidet. Aber für die Eichung des Empörungsthermometers: DAS ist ein Skandal.
John McEnroe, in den Siebziger- und Achtzigerjahren das Enfant terrible des Tennissports, sagt auf dem Sender CBS dennoch: «Ob er es mag oder nicht: Djokovic wird für den Rest seiner Karriere der bad guy bleiben. Es ist ein Fleck, den er niemals auslöschen kann. Es wird interessant sein, wie er das emotional packt.»
Djokovic hat sich die Häme der Fans oder den fehlenden Goodwill der Medien selber zuzuschreiben. Über die Wochen und Monate seit Beginn der Pandemie erntet er Kritik. Direkt vor den US Open etwa gründen er und der Kanadier Vasek Pospisil eine neue Spielervereinigung, die Professional Tennis Players Association (PTPA). Djokovic, bis dahin Präsident des ATP-Spielerrats, will eine autonome Vereinigung ausserhalb des ATPDachs. Das macht — zieht man Vergleiche zu Gewerkschaften ausserhalb des Sports — durchaus Sinn. Lobenswert ist unter anderem seine Idee, damit Druck aufzubauen, um die Preisgelder fairer zu verteilen. Denn die Spieler ausserhalb der Top 150 kämpfen um die Existenz auf der Tour.
In anderen Weltsportarten mit Turnieren, die wahre Geldmaschinen sind, wäre das undenkbar. Djokovic, mit 145 Preisgeld-Millionen der bestverdienende Spieler der Geschichte, macht sich für die Armen stark. Ein edler Zug. So oder ähnlich hätten die Reaktionen ausfallen können. Aber der Serbe macht einen Kardinalfehler. Er hält es nicht für nötig, Roger Federer und Rafael Nadal mit ins Boot zu holen. Ohne die Absolution der beiden Superstars steht das Projekt auf wackligen Beinen. «In diesen schwierigen Zeiten ist es wichtig, zusammenzustehen», lässt sich Federer auf Twitter zitieren. «Es ist falsch, sich zu teilen», schreibt Nadal. Djokovic — der mit den beiden in der Vergangenheit schon in mehreren tennispolitischen Themen über Kreuz lag — mag die Ikonen auch in diesem Fall nicht als Bittsteller angehen. Die Konsequenz: Er ist nicht Djokovic der Retter, sondern der Spalter.
«Novak wird für den Rest seiner Karriere der Bad Guy bleiben. Der Fleck bleibt»
John McEnroe, Tennis-Experte und ehemaliges Enfant terrible.
Im Corona-Jahr lässt Djokovic Bizarres nicht aus. In seiner Web-Serie «The Self Mastery Project» gibt er nicht nur durchaus nachvollziehbare Tipps über die Visualisierung des Erfolgs, er lässt nebenbei auch obskures Personal wie den Iraner Chervin Jafarieh auftreten. Der selbst ernannte Alchemist preist auf dem Kanal pflanzliche Nahrungsergänzungsmittel als Heilmittel gegen Depressionen an. Danach teilt Djokovic eine Theorie, wonach Heiler mit der Kraft ihres Geistes Wasser verändern können. «Ich habe Menschen gesehen und kenne Leute, die durch energetische Transformation, die Kraft des Gebets und der Dankbarkeit das giftigste Wasser in heilendes Wasser verwandelt haben. Wissenschaftler haben bewiesen, dass Moleküle im Wasser auf unsere Emotionen reagieren.»
Nicht immer ist Djokovic selbst der Auslöser für hochgezogene Augenbrauen. Zwischendurch ist es auch seine Frau Jelena, die einmal ein Instagram-Video teilt, welches Zusammenhänge zwischen dem Corona-Virus und der 5G-Technik herstellt, ein andermal die Verbindung von Mundhygiene und der Fruchtbarkeit bei Frauen.
Seine mit Abstand schlechteste Entscheidung ist es aber, im Juni — mitten in der Corona-Krise — die Adria-Tour in Kroatien und Serbien durchzuführen. Eine Reihe von Showturnieren vor vollen Rängen, wo das Maskentragen fakultativ ist. Djokovics Absichten sind gut. Er will schlechter platzierten Profis aus dem Balkan helfen und gleichzeitig — neben einer persönlichen Spende von über einer Million Dollar — Geld zur Bekämpfung des Virus in Italien und Serbien sammeln. Die Bilder, die um die Welt gehen, sind aber andere. Spieler, die sich abklatschen, mit den Zuschauern auf Tuchfühlung gehen und abends Party machen. Djokovic und seine jüngeren Freunde auf der Tour, der Österreicher Dominic Thiem und der Deutsche Alexander Zverev, tanzen ausgelassen Limbo in einer Disco.
Prompt gibt es Corona-Fälle bei Spielern, Betreuern und Zuschauern. Positiv getestet werden auch Djokovic und seine Frau, die sich danach für 14 Tage in Quarantäne begeben. Die Weltnummer 1 folgt im Grundsatz nur den laxen Vorschriften der beiden Länder, die den Veranstaltern — die Fälle waren Anfang Juni tief — freie Hand lassen. In jenen Wochen findet in Belgrad auch ein Fussballderby vor über 20 000 Zuschauern statt. Serbien wird kurz danach wieder zum Corona-Hotspot. «Ich glaube nicht, dass ich etwas Schlechtes getan habe», sagt Djokovic später. «Mir tun die Leute leid, die sich infiziert haben. Aber bin ich verantwortlich für all die Neuinfektionen in der Region? Natürlich nicht. Es ist eine Hexenjagd. Wie kann man jemanden für alles verantwortlich machen?»
«Ich glaube nicht, dass ich etwas Schlechtes getan habe. Es ist eine Hexenjagd im Gang gegen mich»
Novak Djokovic, nach der Adria-Tour 2020
Es ist erstaunlich, dass Djokovic sich punkto Image an diesem ungemütlichen Platz wiederfindet. Zumal er — nach einem sportlichen Absturz im Jahr 2017 — in den vergangenen Jahren nicht nur der erfolgreichste der «big three» war, sondern auch ausserhalb des Platzes eine Ruhe, Souveränität und Maturität ausstrahlte, die von einem grossen Champion erwartet wird. Vergessen schien, dass er lange Jahre darunter litt, nicht wie Federer und Nadal geliebt und respektiert zu werden, von Medien — aber vor allem von Fans. Er wirkte etwas verloren, wenn er nach Triumphen in Wimbledon in die Knie ging, ein paar Grashalme zupfte und sie sich in den Mund steckte. Um eine eigene Geste zu schaffen, eine Verbindung zum Publikum, die er meist über den Humor versuchte.
Doch schon früher kam sein Witz nicht überall an. Wenn er etwa in brillanter Weise seine Kollegen parodierte, fühlten sich einige auf den Schlips getreten. Dann liess er es eben. Es tat ihm weh, dass 2019 im Wimbledon-Final ein ganzes Stadion sich in «Roger, Roger»-Rufen hingab. Und dass er sich selber einreden musste, sie riefen «Nole». Er schluckte auch das mit Grösse. Er schien Frieden geschlossen zu haben mit seiner Rolle. Doch ein Leben unter dem Mikroskop ist nicht für jeden. Vor allem nicht für jeden Tag. Federer und Nadal haben in über 20 Jahren auf der Tour Makellosigkeit demonstriert. Kein Ausrutscher auf dem Court, kein privater Skandal, keine heikle politische Aussage. Nichts. Eine fast schon unheimliche Perfektion des Auftritts. Ausgeführt von den Stars selbst bis hin zum unbedeutendsten Mitglied der Entourage, die sich in beiden Fällen — auch das ist kalkuliert — grösstenteils in dezentes Schweigen hüllt.
Djokovic hilft es nicht, dass Vater Srdjan seinem Zorn in unberechenbaren Abständen Luft macht. Mal geht es um Federer, dem er Feindseligkeit gegenüber seinem Sohn vorwirft, mal um Nadal, mal um respektlose australische Fans, welche den Underdog Dominic Thiem anfeuern. «So ist es auch in London oder in New York», sagt er im Januar. «Es ist ein Sport der Reichen, und sie können nicht akzeptieren, dass jemand aus dem armen und kleinen Serbien seit zehn Jahren der Beste der Welt ist.» Es ist erstaunlich, dass Djokovics erfahrener Manager Edoardo Artaldi seinen Klienten und dessen Familie nicht vor solchen Aussagen bewahren kann.
Man bedauert den grossartigen Spieler, der einen magnetischen Charme und Schalk besitzt und ein wunderbarer Gesprächspartner ist, gerade weil bei ihm nicht jedes Wort abgewogen, berechnet und auf seine Harmlosigkeit abgeklopft wird. Aber die Kommunikation ist im Hause Djokovic immer ein schmaler Grat. Man bewundert ihn für sein Gespür und die Reflexion über den fragilen Zustand der Natur und der Gesellschaft, bevor er im nächsten Augenblick die Transformation von giftigem in heilendes Wasser durch Willenskraft erklärt.
Man bedauert den grossartigen Spieler, der einen magnetischen Charme und Schalk besitzt und ein wunderbarer Gesprächspartner ist, gerade weil bei ihm nicht jedes Wort abgewogen, berechnet und auf seine Harmlosigkeit abgeklopft wird. Aber die Kommunikation ist im Hause Djokovic immer ein schmaler Grat. Man bewundert ihn für sein Gespür und die Reflexion über den fragilen Zustand der Natur und der Gesellschaft, bevor er im nächsten Augenblick die Transformation von giftigem in heilendes Wasser durch Willenskraft erklärt. «Ich will die höchsten Gefilde der Tenniswelt erreichen», sagt der 33-Jährige. «Das ist einer der Gründe, warum ich noch spiele.»
Federers Rekord von 310 Wochen als Nummer 1 kann er im März übertreffen. Die Marke von 20 Grand-Slam-Titeln teilt Federer nach Nadals Paris-Triumph über Djokovic nun mit dem Spanier. Der Serbe hat 17. Er kann seine Rivalen durchaus übertreffen. Aber so viel er auf dem Platz tut: der Grösste der Geschichte zu sein, bemisst sich nicht nur nach Siegen.
«Before you judge, make sure you’re perfect», sagt der Joker im Film.
Der Djoker unserer Welt ist fehlerhaft, manchmal unüberlegt, manchmal macht er sich lächerlich. Er ist menschlich. Er ist ein wenig wie wir.
Artikel aus SI Sport 4/2020