Bankova heisst der Präsidentenpalast auf Ukrainisch. Das Licht ist gedämpft, Sandsäcke versperren die Fenster. Olena Selenska schreitet die Treppe im Zentrum des Gebäudes herunter, posiert für den Fotografen. «Niemand hätte sich auch nur träumen können, dass ich eines Tages die Ehefrau eines Präsidenten im Krieg sein werde», sagt die 44-Jährige. Und fragt: «Wo könnte man diesen Beruf lernen?»
Das Ziel Nummer zwei
Seit dem Angriff Putins auf die Ukraine am 24. Februar sind Präsident Wolodimir Selenski, seine Frau Olena Selenska und ihre Kinder Oleksandra, 17, und Kirilo, 9, in grösster Lebensgefahr. Sie gelten als wichtigste Ziele des Feindes. Deshalb ist Olena mit den Kindern nach Kriegsausbruch in den Westen des Landes an einen geheimen Ort geflohen.
«Ich bin das Ziel Nummer eins, meine Familie das Ziel Nummer zwei», hatte Präsident Selenski am Tag nach der Invasion gesagt. Und gleichzeitig klargemacht: «Ich bleibe hier.» Seitdem spricht er täglich über Video zu seinem Volk, hat den Westen im Kampf gegen Russland geeint, nimmt jede Gelegenheit wahr, auf das Drama seines Landes aufmerksam zu machen.
«Vielleicht sehen heute alle endlich das, was ich immer in ihm gesehen habe», sagt Olena über ihren Mann. «Der Krieg schafft nichts Neues, bei niemandem. Er hat meinen Mann nicht zu einem mutigen Mann gemacht. Vielmehr werden die Charaktereigenschaften jedes Einzelnen verstärkt. Mein Mann hat sich nicht verändert, er trägt nur in diesem speziellen Moment der Geschichte eine ausserordentliche Verantwortung. Er muss es mit Würde tun, und ich bin sicher, dass er es bis zum Schluss tut.»
Kurze Begegnungen
Im Hintergrund wird für den Präsidenten gerade ein Rednerpult aufgebaut. Er wird vorbeikommen, um seine Frau zu begrüssen. Die Anweisungen sind klar: Dieser Moment ist privat, weder Bilder noch Tonaufnahmen sind erlaubt. Die dunklen Gänge des Präsidentenpalastes und kurze Begegnungen sind das Einzige, was dem Paar an Privatsphäre geblieben ist.
Viermal heulen an diesem Tag in Kiew die Sirenen. Immer wieder wird die Hauptstadt aus der vermeintlichen Sicherheit eines schönen Sommertages gerissen. Die First Lady sagt: «Wir gewöhnen uns an diesen permanenten Stress. Die Zukunft heisst für uns morgen oder übermorgen, nicht mehr.» Aber ihr ist bewusst, was das mit den Menschen macht. Deshalb hat Olena Selenska eine Initiative für mentale Gesundheit ins Leben gerufen. «Es reicht nicht, die Städte aufzubauen, wir müssen den Menschen die Fähigkeit zurückgeben, wieder zu träumen und Freude am Leben zu haben.»
Die Kinder nie belogen
In den ersten Tagen des Krieges hatte die Präsidentengattin Transporte ins Ausland für krebskranke Kinder organisiert und Brutkästen für Spitäler besorgt. «Im Krieg gibts oft Frühgeburten.» Selenska hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, dass es heute in zwölf europäischen Ländern 100 000 Kinderbücher in ukrainischer Sprache für die geflüchteten Kinder gibt. «Es sind Bücher, die uns an unsere Kultur binden, und es darf nicht an Gutenachtgeschichten fehlen.»
Ihre Kinder habe sie nie angelogen, was den Krieg betrifft. «Einem Kind kann man nichts verbergen, was es selber sieht.» Sie hofft, dass möglichst viele Kinder nach dem Sommer wieder in die Schule gehen. «Sie sollen mit Kameraden spielen können, statt sie beerdigen zu müssen. Die Kinder hatten Vertrauen in die Welt, die Welt hat sie betrogen.»
«Die Täter werden bestraft werden.»
Olena Selenski
Ihre Stimme stockt und wird brüchig, wenn sie von dem spricht, was unaussprechlich ist: die Kriegsgräuel in den besetzten Gebieten. «Was mir Angst macht, ist nicht, was wir wissen, sondern was wir noch nicht wissen, das, was jetzt in Mariupol und anderen Städten vor sich geht.» Schrecklich, teuflisch sei, wozu die Russen fähig seien. Humanitäre Hilfe, der Schutz der Kinder, die Rolle der Frauen, «die kämpfen, pflegen, retten, uns ernähren, ihre Kinder durch Flucht schützen oder hierbleiben» – Olena Selenska ist ihre Stimme. Und auch die der Opfer.
«Die Täter werden bestraft werden», verspricht sie. Und appelliert: «Wir dürfen nicht vergessen werden. Zu spüren, dass uns der Westen unterstützt, gibt uns Hoffnung – bis zum Sieg.»
Bearbeitung: Monique Ryser