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Charlotte Gainsbourg am ZFF

Die Grenzgängerin

Mit Flüsterstimme spricht sie die erschreckendsten Wahrheiten aus. Nun bekommt die französische Schauspielerin und Sängerin Charlotte Gainsbourg das Goldene Auge für ihre herausragende Karriere.

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Charlotte Gainsbourg

Traurig, zerbrechlich und doch unheimlich stark: Die Schauspielerin vereint Gegensätze.

Dukas

Das Erste, was einem an Charlotte Gainsbourg auffällt, ist ihr Mund. Gross, mit vorgeschobener Unterlippe, fast, als ob die Schauspielerin einen Unterbiss hätte. Ihr Gesicht vereint Widersprüche. Über dem kantigen Kiefer leuchtet der scheue Blick. Man ertappt sich beim Vergleichen: Hat ihre Mutter Jane Birkin einen solch harten Mund? Nein. Und auch bei ihrem berühmten Vater, dem Chansonnier Serge Gains bourg, sucht man vergebens. Charlotte Gainsbourgs Mund gehört ihr allein.

Heute, mit 51 Jahren, zählt Charlotte Gainsbourg zu den profiliertesten Filmdiven ihres Landes und kann auch auf ein beachtliches musikalisches Werk zurückblicken. Stolz präsentiert das Zurich Film Festival die Schauspielerin als einen der wichtigsten Stargäste der 18. Ausgabe und verleiht ihr am 26. September das Goldene Auge für ihre, wie der Festivaldirektor Christian Jungen lobt, «mutige Rollenwahl».

 

VENICE, ITALY - SEPTEMBER 09: Charlotte Gainsbourg and Director Yvan Attal attend the red carpet of the movie "Les Choses Humaines" during the 78th Venice International Film Festival on September 09, 2021 in Venice, Italy. (Photo by Stefania D'Alessandro/Getty Images)

Seit 1991 ist sie mit dem französischen Filmschaffenden Yvan Attal, 57, liiert. Sie haben drei Kinder.

Getty Images

Und tatsächlich: Was hat dieses zarte Wesen nicht schon gespielt, eine Diebin, eine Nymphomanin, eine Sozialarbeiterin oder eine verzweifelte Mutter – und in jeder Rolle ist sie ganz da, kann jeder eine anrührende Dimension abtrotzen. Sie spricht mit Flüsterstimme die erschreckendsten Wahrheiten aus und behält doch ein Geheimnis für sich. Sie hat das, was eine gute Schauspielerin von einer zeitlosen Diva unterscheidet: Jeder ihrer Blicke offenbart das Vorhandensein innerer Abgründe, über die sie wie auf einer Brücke wandelt, absturzgefährdet und doch souverän.

Vieles begann für sie mit einem Skandal. Sie war erst 13 Jahre alt, als sie mit ihrem Papa 1984 den Song «Lemon Incest» aufnahm. Sie singen im Duett über die Liebe, die «sie nie zusammen machen werden», Serge brummend, Charlotte dünn und hoch. War das eine von den berüchtigten Provokationen Serge Gainsbourgs? Sie wirkte. Frank reich tobte. In einer Fernsehaufzeichnung wird Charlotte gefragt, weshalb sie nicht Nein gesagt habe zu dem Song? Sie habe weder Ja noch Nein ge sagt, antwortet das Mädchen zögernd, sie habe es einfach gemacht. Für den Vater, um mit ihm zusammen zu sein.

Es ist eine feine Linie zwischen einem emotionalen Übergriff und einem gemeinsamen Wagnis, und es gibt keinen Zweifel, dass der scheinbar inzestuöse Song für den Vater und die Tochter das Zweite war. Mehr noch, als Schauspielerin wurde Charlotte Gainsbourg zur Spezialistin für solche heiklen emotio nalen Zwischenbereiche. Schon in ih rem ersten Film, der Pubertätskomödie «L’Effrontée» (1985) von Claude Miller, spielt sie das «freche Mädchen», wie der deutsche Titel hiess, kapriziös, verführerisch, verwirrend und verwirrt.

Mit dem dänischen Regisseur Lars von Trier nahm sie drei dunkle Filme auf, wovon die explizite «Nymphomanin» nicht einmal der verstörendste ist. «Antichrist» (2009) ist es, eine Mär über das Böse, in dem sie eine nach dem Tod ihres Kindes verrückt gewordene Mutter spielt. Sie bekam dafür die Gol dene Palme von Cannes. Doch Leinwandleid geht bei Gainsbourg nicht mit einer persönlichen Tragödie ein her. Sie ist seit dreissig Jahren mit dem Schauspieler und Regisseur Yvan Attal verheiratet, hat drei Kinder mit ihm.

Den frühen Tod ihrer Schwester Kate Barry 2013 hat sie in einem ihrer bisher reifsten musikalischen Werke verarbeitet, dem Album «Rest». Stürmisch unterfütterte Discoklänge, dazu Charlotte Gainsbourgs brüchige Stimme, die von Verlust und Hingabe singt – man versteht, wenn sie in Interviews gesteht, auf sich selbst stolz zu sein.

Nach Zürich kommt die grosse Gains bourg mit «The Almond and the Seahorse», einem trauriglustigen Film, in dem sie um die Genesung ihrer Hirntraumaversehrten Partnerin kämpft. Sie spielt an der Seite der australischen Komikerin Rebel Wilson, eine un gewöhnliche Paarung. Man fühlt sich an den Dokumentarfilm «Jane by Charlotte» von 2021 erinnert, ihrem RegieErstling, in dem sie eine Annäherung an Mutter Jane Birkin wagt. Charlotte Gainsbourg geht behutsam vor, so, als ob die Mutter eine Fremde wäre, der sie mit Respekt begegnet. Eine Haltung, die sie jedem ihrer Filmpartner entgegenbringt – ein Glück für den Film, den Regisseur und vor allem für die verzauberten Zuschauer.

Von Ewa Hess am 16. September 2022 - 18:50 Uhr