Die Digitalisierung hat mitunter neue Wege zur Kommunikation und zur Selbstinszenierung geschaffen. Besonders die nach der Jahrtausendwende geborenen Menschen kommen oftmals bereits vor dem Teenager-Alter erstmals mit sozialen Medien in Kontakt. Durch den frühen Zugang sind sie im Umgang mit Plattformen wie Instagram, Snapchat oder auch TikTok bestens vertraut. Als Digital Natives von heute wissen sie, wie sich im Netz zu präsentieren und nutzen diese Fähigkeiten, um als Individuum in einer stetig wachsenden Teilöffentlichkeit wahrgenommen zu werden.
Immer öfters nutzen Jugendliche und junge Erwachsene die sozialen Medien auch, um die eigene Meinung und Überzeugung zu Sachverhalten in die Welt hinauszutragen. Schweizer-illustrierte.ch zeigt anhand zweier prominenter Beispiele, was für unterschiedliche Themen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen heute umtreiben und befragt in diesem Zusammenhang einen Experten über den extremen Spagat, was die Jugend von heute privat und beruflich erreichen will.
Greta Thunberg, die unerschrockene Klimaretterin
Seit 72 Wochen streikt Schülerin Greta Thunberg, 17, fürs Klima. Während die einen die junge Schwedin anbeten, wird sie von anderen verteufelt. Was Greta im Sommer 2018 als Schul-Protest initiiert hat, treibt am 15. März 2019 weltweit fast 1,8 Millionen junge Menschen auf die Strasse. Inzwischen verfolgt die politische und wirtschaftliche Elite eifrig das Tun der jungen Schwedin. Unerschrocken wie sie ist, spricht sie vor Tausenden von Menschen. 2019 unter anderem am Weltwirtschaftsforum in Davos oder beim Uno-Klimagipfel in New York. Vergangenes Jahr kürte das «Time»-Magazin die Klima-Aktivistin sogar zur Persönlichkeit des Jahres. Gretas Instagram-Account zählt aktuell über 9,6 Millionen Follower.
Laura Müller, die provozierende Influencerin
Weit weg von einer Million Follower, aber seit rund einem Jahr ebenfalls international in den Schlagzeilen ist die deutsche Laura Müller. Die 19-Jährige macht wegen ihrer Beziehung zum 28 Jahre älteren Schlagerstar Michael Wendler von sich reden. Nachdem die junge Frau die Schule abgebrochen hat und zu ihm nach Florida gezogen ist, versucht sie sich erfolgreich als Influencerin.
Auf dem Weg zu mehr Reichweite kommt ihr das grosse mediale Interesse an ihrer Person gerade recht. Mit ihren TV-Debüts bei der Auswanderer-Sendung «Goodbye Deutschland» und der Trash-Show «Das Sommerhaus der Stars» kurbelte sie die Berichterstattung über sich in den Boulevardmedien wohl wissentlich an. Nachdem es um den Jahreswechsel etwas ruhiger um sie und ihre Beziehung wurde, sucht sie nun mit einem durchaus provokativen Schritt erneut das grosse Scheinwerferlicht. Diese Woche wurde bekannt, dass sich Laura fürs deutsche Männer-Magazin «Playboy» ausgezogen hat. Die 19-Jährige ziert das Cover der Februar-Ausgabe, wie sie stolz auf Instagram bekannt gibt.
Laura sieht in ihrem Nackt-Shooting einen Weg, anderen jungen Frauen Mut zu machen, zu ihrem natürlichen (nicht operierten) Körper zu stehen. Zum Post des «Playboy»-Covers schreibt Wendlers Freundin: «Ich bin so unendlich stolz und überglücklich ‹Playboy›-Cover der aktuellen Februar-Ausgabe 2020 sein zu dürfen.» Das Männer-Magazin stehe für sie für ästhetische, stilvolle, erotische und professionelle Bilder. «Mit dieser Zusammenarbeit ist für mich ein grosser Traum in Erfüllung gegangen», schwärmt sie und ergänzt an ihre Fans gewandt: «Ich habe mich selten so wohl in meiner Haut gefühlt, wie bei dem Shooting auf Mallorca und möchte auch anderen Frauen damit Mut machen: Lasst euch von anderen nicht verunsichern oder kritisieren, lernt euren Körper lieben, denn so wie ihr seid, seid ihr einzigartig und besonders.»
Pocher stellt die unterschiedlichen jungen Frauen einander gegenüber
Der deutsche Komiker und Moderator Oliver Pocher, 41 nimmt die beiden prominenten Persönlichkeiten zum Anlass für ein pikantes Statement in Bezug auf die heutige Gesellschaft. Er stellte auf seinem Instagram-Profil eine Bild-Collage von Laura Müllers «Playboy»-Cover und Greta Thunberg Klimastreik-Schnappschuss und schrieb dazu: «Unterschiedlicher könnten die beruflichen und privaten Ziele von 17-Jährigen heute nicht mehr verlaufen...»
Tatsächlich steht dieses Beispiel für einen generellen Eindruck, den wir mehr und mehr gewinnen, dass nämlich der Spagat zwischen dem, was Jugendliche und junge Erwachsene erreichen wollen, heute extremer ist als in Generationen zuvor. Also, vom extremen Helfersyndrom bis zur extremen Selbstinszenierung. Aus diesem Grund haben wir Prof. Dr. Daniel Süss, den Leiter des Psychologischen Instituts an der ZHAW, zu dieser Beobachtung befragt.
Daniel Süss, 57, ist Professor für Medienpsychologie an der ZHAW und Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Zürich. Er forscht zu Medienalltag und Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen.
Herr Prof. Dr. Süss, als Medienschaffende habe ich manchmal den Eindruck, die heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen wollen entweder Influencer werden oder haben sich der Klima- und Umwelt-Politisierung verschrieben. Es scheint mir, als gäbe es dazwischen fast nichts mehr. Warum ist der Spagat, was man im Leben erreichen will, heute so extrem?
Zunächst muss ich klarstellen: Als Forscher im Bereich Jugendliche und Medien erhalte ich ein anderes Bild dessen, was Jugendliche anstreben. Es ist deutlich vielfältiger. Greta Thunberg steht für Jugendliche, denen Umwelt, Klima und Gerechtigkeit am Herzen liegt und die sich Sorgen machen um die Zukunft. Das sind gemäss der Shell Jugendstudie von 2019 oder dem CS Jugendbarometer von 2018 zunehmend viele Jugendliche. Laura Müller steht für Jugendliche, die das Leben im Moment in vollen Zügen geniessen wollen, die aber auch ehrgeizige Karrierepläne haben und digitale Medien intensiv nutzen, um sich selbst zu inszenieren. Sogenannte «Uploader» sind aber eine Minderheit der Jugendlichen, die Gruppe der «zurückhaltenden Nutzer» sozialer Netzwerke ist etwa gleich stark vertreten (je 12 Prozent in Deutschland). Und das grosse Mittelfeld ist eher moderat und auch oft ambivalent bis kritisch gegenüber zu viel Offenherzigkeit auf sozialen Medien.
Während sich Greta für die Sache stark macht, konzentrieren sich Jugendliche/junge Erwachsene wie Laura auf das eigene Ich. Wie erklären Sie sich, dass sich unter den nach der Jahrtausendwende geborenen zwei solche Extreme herauskristallisieren konnten?
Es sind wohl die Extrempole auf einer breiten Skala. Was sich dazwischen alles abspielt, wird weniger wahrgenommen, gerade auch in der medialen Berichterstattung über Jugendliche. Beiden Beispielen ist aber gemeinsam, dass die mediale Inszenierung die eigenen Ziele unterstützt und dass Jugendliche diese Medienlogik gut verstehen und damit spielen können, sei es auf sozialen Medien oder in publizistischen Medien.
Woher kommt überhaupt der Wunsch nach einer derartigen medialen Inszenierung, sei es jetzt für das eigene Ich oder für die Sache?
Mediale Inszenierungen sind in allen Bereichen unserer Gesellschaft immer dominanter, gerade auch in der Politik und in der Marken-Profilierung. Die Jugendlichen machen also nichts Anderes als die Erwachsenen. Dass man sich für idealistische Werte oder für die Selbstinszenierung stark machen kann, setzt einen gewissen Wohlstand und persönliche Sicherheit voraus. Die meisten Jugendlichen in der Schweiz und in unseren Nachbarländern fühlen sich wohl in ihren Familien, haben hohe Bildungsziele und sehen ihre persönliche Zukunft zuversichtlich. Jugendliche in anderen Teilen der Welt, die zum Beispiel im Alltag von hoher Arbeitslosigkeit oder Krieg und Terror bedroht sind, haben ganz andere Anliegen.
Früher konnte man einer Generation ein markantes Attribut zuschreiben, wie etwa die «sexuellen Revolutionäre» der 1968er-Jahre. Heute sind es zwei scheinbar komplett gegensätzliche Bewegungen. Woher kommt diese gesellschaftliche Spaltung?
Die heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind pragmatisch, manchmal auch scheinbar widersprüchlich, indem sie zwar sehr leistungsorientiert sind, aber auch konsumorientiert und hedonistisch. Da fällt es schwer, eine einheitliche Etikette zu finden. Den Jugendlichen ist Toleranz und Vielfalt wichtig. Das Revolutionäre, die Abgrenzung von den etablierten Erwachsenen, zeigt sich heute im Protest gegen eine Konsum- und Wegwerfgesellschaft, die nicht langfristig denkt. Unsere Gesellschaft ist insgesamt schon viel offener und vielfältiger als vor der 1968er-Bewegung. Das Risiko dabei: Populistische Botschaften, welche die Welt einfacher machen wollen, erhalten wieder mehr Gehör bei manchen Jungen.
Was für Veränderungen haben Sie in der Entwicklung von Jugendlichen/jungen Erwachsenen beobachtet in puncto Engagement und Interessen während der letzten zwanzig Jahre?
Das Engagement von jungen Leuten ist heute eher punktuell, für Demonstrationen und öffentlichkeitswirksame Events. Insgesamt hat das politische Interesse zugenommen, gleichzeitig aber auch die News-Deprivation. Das heisst, dass junge Menschen sich immer weniger an journalistisch aufbereiteten News orientieren als an den Themen, die in sozialen Medien in ihrem persönlichen Umfeld geteilt und diskutiert werden. Das macht die emotionale Seite der Ereignisse und Themen wirkmächtiger. Die Gleichstellung von Mann und Frau ist bei jungen Menschen in vielen Ländern, auch in der Schweiz, ein grosses Anliegen geworden.
«Jugendliche aus ökonomisch und bildungsmässig besser gestellten Familien, die selbst auch höhere Bildungsabschlüsse anstreben, sind tendenziell eher für Umwelt und Klima engagiert»
Anhand welcher Faktoren entscheidet sich, ob ein Jugendlicher mehr auf die Influencer-Schiene oder auf die Klima-Schiene anspringt?
Jugendliche aus ökonomisch und bildungsmässig besser gestellten Familien, die selbst auch höhere Bildungsabschlüsse anstreben, sind tendenziell eher für Umwelt und Klima engagiert. Worüber in den Familien im Alltag ausgetauscht wird, hat hier einen grossen Einfluss. Mode und Lifestyle, Körper- und Schönheitsinszenierungen stehen eher im Vordergrund, wenn Jugendliche intensiv soziale Medien nutzen und sich dort mehr Erfolge versprechen, als durch schulische Leistungen. Aber auch dort ist «harte Arbeit» angesagt, verbunden mit der Erwartung, kurzfristig aus der Masse herauszustechen zu können. Die meisten Jugendlichen glauben aber nicht, dass Erfolge auf sozialen Medien ihnen langfristig eine Zukunft aufbauen können.
Jugendliche Aktivisten wie die Schwedin Greta Thunberg setzen sich fürs Klima und die Umwelt ein. Sind existentielle Ängste der vordergründige Antrieb für die Politisierung in dieser Sache oder welche Antriebe vermuten Sie bei den Jugendlichen?
In der Schweiz ist die aktuell grösste Sorge der Jugendlichen die Sicherung der Altersvorsorge. In anderen Ländern ist es die Angst, dass durch die Digitalisierung Berufe und Jobs verschwinden und man deshalb keine Perspektive hat. Beim Klima geht es um die Sorge, dass die Erwachsenen die natürlichen Ressourcen für die Zukunft verschleudern. Bei all diesen Themen ist es also eine Sorge, dass den jungen Menschen langfristig Lebensgrundlagen entzogen werden. Das motiviert dazu, sich Gehör zu verschaffen im Hinblick auf eine lebenswerte Zukunft.
«Der Wunsch nach einem guten Verdienst, spielt auch beim Influencer-Berufswunsch eine Rolle»
Welche Rolle spielen Vorbilder, etwa berühmte Persönlichkeiten, bei beiden Gruppierungen?
Vorbilder spielen bei Jugendlichen schon immer eine grosse Rolle. Das ist Ausdruck der Suche nach der eigenen Identität. Erst wenn diese gefestigt ist, kann man sich von Vorbildern wieder distanzieren. Die sozialen Medien haben neue jugendliche Stars hervorgebracht: Influencer, YouTuber, Gamer-Stars, wie wir in unserer JAMES-Studie zeigen können. Aber auch die unzähligen Casting-Shows im Fernsehen haben den Traum genährt, dass man von einem Tag auf den anderen entdeckt werden kann und in einer anderen Liga mitspielen kann.
Viele Jugendliche wollen heutzutage Influencer werden. Was sind die Antriebe für diesen Berufswunsch?
Früher sagten Jugendliche eher, sie wollen Filmstar oder Pilot werden, auch wenn sie nicht ernsthaft daran glaubten, dies erreichen zu können. Der Wunsch nach einem prestigereichen Beruf, nach Bewunderung und Aufmerksamkeit, aber auch nach einem guten Verdienst, spielen auch beim Influencer-Berufswunsch eine Rolle. Schaut man aber, was Jugendliche im CS Jugendbarometer als bevorzugte Branchen für ihre berufliche Zukunft nennen, dann sind es in der Schweiz das Unterrichts- und Bildungswesen, in den USA, Brasilien und Singapur hingegen die IT- und Tech-Branche. Den jungen Leuten ist es wichtig, viel Eigenständigkeit im Beruf zu haben und eine gute Balance zwischen Arbeit, Familie und Freizeit. Das wäre beim Job Profi-Influencer zum Beispiel kaum zu haben.
Was halten Sie als Experte von der zunehmenden Politisierung der Jugendlichen?
Das ist eine grosse Chance für unsere Gesellschaft. Der Dialog auf Augenhöhe zwischen den Generationen ist wichtig und eine Basis für die Zukunft der Demokratie. Politisches Engagement braucht aber auch verlässliche Informationsquellen. News-Deprivation, Fake-News und Filter-Bubbles in sozialen Netzwerken sind da ein Risiko. Politische Bildung, Medienkompetenz und Qualitätsmedien, welche die Jugendlichen erreichen, sind daher notwendiger denn je.