Seit Dienstagabend Ortszeit ist offiziell klar, wer am 3. November als Kandidat für die Demokraten gegen Donald Trump, 74, ins Präsidentschafts-Rennen steigen wird. Sein Gegner hört auf den Namen Joe Biden, ist 77 Jahre alt und kann sich nichts Schöneres vorstellen, als das Staatsoberhaupt der USA zu werden. «Es bedeutet die Welt für mich und meine Familie», liess er sich nach seiner Nomination zum Abschluss des Parteitags in Wilmington, Delaware, zitieren.
Was sich wie ein dahergesagter, ausgeschmückter Spruch liest, enthält bei dem Mann, der ihn am Dienstagabend in die Welt hinausgetragen hat, viel Wahres. Denn Joe Bidens Weg ist gezeichnet von Rückschlägen, Tiefpunkten und erschütternden Familientragödien. Wer ist der Mann, der sich nach zwei gescheiterten Präsidentschaftskandidaturen sowie einer Vizepräsidentschaft an der Seite von Barack Obama, 59, aufmacht, ins Weisse Haus zurückzukehren?
Freud und Leid liegen bei Joseph Robinette Biden, dem Sohn eines Autohändlers, aufgewachsen in einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Delaware, seit Beginn der Karriere nahe beieinander. Mit 29 Jahren wird er 1972 überraschend in den US-Senat gewählt – als einer der Jüngsten der Geschichte. Ihm steht eine glänzende Zukunft zuvor, der er allerdings selbst nicht traut. «Es ist alles zu perfekt. Das kann gar nicht sein», sagt er gemäss der «Basler Zeitung» am Tag nach der Wahl zu seiner Frau. Er ist sich sicher: «Irgendetwas wird passieren.»
Etwas mehr als einen Monat später ist klar: Biden sollte Recht behalten. Seine Frau Neilia, damals 30, und Tochter Naomi, 1, sterben bei einem Autounfall, als ein Lastwagen in ihren Kombi prallt. Auch die anderen beiden Kinder, der damals vierjährige Beau und der dreijährige Hunter, sitzen im Unglückswagen, überleben aber mit schweren Verletzungen. In seinen Memoiren «Promise me, Dad» beschreibt der plötzliche Witwer das Gefühl in der Zeit danach «wie ein Traum», in dem man «falle und falle und falle». «Ich begann zu verstehen, wie Verzweiflung dazu führen kann, dass die Leute einfach aufgeben. Wie Suizid nicht nur eine Option wird, sondern sogar eine rationale Option.»
Doch Biden kämpft – für sich und seine Söhne. Er verliebt sich neu, heiratet 1977 Jill Tracy Jacobs. «Sie hat mir mein Leben zurückgegeben», sagt er später. Mit ihr kriegt er eine weitere Tochter, Ashley. Obwohl das Kennenlernen für Jill nicht einfach ist. «Ich hätte mit 26 Jahren nie gedacht, dass ich mich fragen würde: ‹Wie macht man eine kaputte Familie wieder ganz?›», erzählt sie gemäss «The Hill» an einem Kongress. «Aber Joe sagte den Buben immer: ‹Mami hat Jill zu uns geschickt› – und wie hätte ich mich ihr widersetzen können?» Sie bleibt bis heute an seiner Seite, ist seine grösste Stütze im Wahlkampf.
Mit Jill ist die Patchwork-Familie perfekt. Doch 1987 folgt ein weiterer schwerer Schlag: Nachdem Biden sich für die Präsidentschaft bewirbt, werden Plagiatsvorwürfe gegen ihn laut. Er zieht die Kandidatur schliesslich zurück – und erleidet nur kurz danach eine Hirnblutung, die er nur dank einer Notoperation überlebt.
2015 muss der Politiker den nächsten tragischen Verlust hinnehmen. Sein Sohn Beau, mit dem er ein enges Band pflegt und der ebenfalls politische Ambitionen hegt, stirbt an den Folgen eines Hirntumors. Er hinterlässt eine Ehefrau und zwei Kinder. «Der Schmerz wird nie ganz weggehen», sagt Biden. Verspricht aber gleichzeitig, als er zu Eltern von gefallenen Soldaten spricht, dass der Schmerz kontrollierbar werde. «Es wird der Tag kommen, da wird euch der Gedanke an eure Lieben zuerst ein Lächeln auf die Lippen zaubern, bevor euch eine Träne übers Gesicht läuft.»
Bereits vor den Wahlen sorgt Joe Biden mit seinem Wesen und seinen Entscheidungen für einige Premieren. So ist er der erste demokratische Präsidentschaftskandidat seit Walter Mondale vor bald 40 Jahren, der keine Elite-Universität besucht hat. Er schliesst sein Politikwissenschafts- und Geschichtsstudium 1964 an der University of Delaware ab, drei Jahre später folgt das Berufsdoktorat als Jurist, woraufhin er als Anwalt arbeitet.
Und auch die Wahl seines Running Mates ist eine Premiere: Vergangene Woche gibt er bekannt, dass er mit Kamala Harris, 55, ins Rennen gehen wird. Sie könnte die erste Vizepräsidentin der USA werden – und die erste Frau mit afroamerikanischen Wurzeln auf dem zweithöchsten Posten der USA.
Seine 50-jährige Erfahrung in der Politik hat bei Joe Biden keine reine Weste hinterlassen. Gegen ihn wurden in der Vergangenheit Vorwürfe laut, wonach sich Frauen bei Begegnungen mit ihm unangenehm gefühlt hätten. Er wurde allerdings von zahlreichen anderen Frauen verteidigt, so etwa von Susan Collins, einer republikanischen Senatorin aus Maine. Biden sei ein «natürlicher Berührer». Und auch Biden selbst entschuldigte sich nach zwei erneuten Vorwürfen, die besagten, dass er sich unangemessen verhalten habe. Er sagte, es sei nie seine Intention gewesen, Unwohlsein zu verursachen, und er habe niemals geglaubt, dass seine Aktionen unangemessen gewesen seien.
Im März dieses Jahres schliesslich erhebt eine ehemalige Mitarbeiterin Vorwürfe der sexuellen Nötigung gegen Biden und erstattet Anzeige, obwohl der Vorfall, der sich im Jahr 1993 abgespielt haben soll, bereits verjährt ist. Nachdem seine Vizemanagerin die Anschuldigungen bereits zurückgewiesen hat, nimmt Biden auf dem TV-Sender «MSNBC» im Mai erstmals Stellung. Die Vorwürfe seien nicht wahr. «Das ist nie passiert», beteuert er.
Noch heute gilt Biden nicht als guter Redner, verspricht sich zwischendurch, vertauscht Wörter oder verhaspelt sich. Das hat seinen Grund: Er hat als Kind gestottert. Bei einer Veranstaltung erzählte er, dass er gelernt habe, einfach irgendetwas anderes zu sagen, wenn er hängenblieb. Das passiert ihm auch heute noch ab und an.
Für Trump ein gefundenes Fressen: Seine ehemalige Sprecherin Sarah Huckabee Sanders nimmt Bidens Sprechweise Ende letzten Jahres auf Twitter auf die Schippe. Biden reagiert gelassen. «Ich habe mein ganzes Leben gearbeitet, um das Stottern zu überwinden. Und es ist mir eine grosse Ehre, Kinder zu unterstützen, die dieselben Erfahrungen gemacht haben», kontert er beim Kurznachrichtendienst. «Das nennt man Empathie.»
Obwohl Huckabee Sanders zum Zeitpunkt des diffamierenden Tweets nicht mehr für Trump tätig ist, wird ihre Aussage als republikanischer Affront gegen Biden verstanden – und damit als Stichelei vonseiten Trumps.
Ohnehin lässt der amtierende US-Präsident kaum eine Gelegenheit aus, gegen seinen Gegner zu wettern. Gerade erst bezeichnete er Biden als «Marionette der radikalen linken Bewegung». Die, so Trump, strebe die «vollständige Beseitigung der Grenzen Amerikas an». Und bei einer Veranstaltung in einer New Yorker Polizeigewerkschaft liess er über einen Spitznamen für seinen Gegner abstimmen. «Was ist besser: ‹Schläfriger Joe› oder ‹Langsamer Joe?›», fragte er.
Biden selbst nannte Trump einen «absoluten Idioten» – allerdings erst, nachdem sich dieser über seine Gesichtsmaske lustig gemacht hatte. Ansonsten zeigt er sich menschlich und nahbar. Als Mitte August Trumps Bruder stirbt, kondoliert ihm sein Gegner via Twitter. «Jill und ich sind traurig, vom Tod Ihres jüngeren Bruders Robert zu erfahren. Ich kenne den gewaltigen Schmerz, jemand Geliebtes zu verlieren – und ich weiss, wie wichtig die Familie in diesen Momenten ist. Ich hoffe, Sie wissen, dass unsere Gebete Ihnen allen gehören.»
Bidens Empathie kommt an – neben seinem politischen Programm. Auch Ex-First-Lady Michelle Obama, 56, spricht sich für die Wahl Bidens aus. «Donald Trump ist der falsche Präsident für unser Land», begründet sie ihre Unterstützung am Parteitag der Demokraten. Biden sei ein «zutiefst anständiger Mann»: «Er hört zu. Er wird die Wahrheit sagen und der Wissenschaft vertrauen.»
Obamas Stimme gehört im November Biden – auch und insbesondere in der Corona-Krise. «Er weiss, was es braucht, um eine Wirtschaft zu retten, eine Pandemie zurückzuschlagen und unser Land zu führen.»