Wohl noch lange über den Todestag hinaus wird die Frage diskutiert werden, wie aktiv Michail Gorbatschow den Verlauf der Geschichte vor, während und nach dem Zerfall der Sowjetunion (Ende 1991) bestimmt hat – oder in welcher Weise und wann er zum Getriebenen der Ereignisse wurde. Dem Westen gilt er als Lichtgestalt: Er hat den Kalten Krieg beendet und den Menschen im eigenen Machtbereich Freiheiten verschafft, die jahrzehntelang als unerreichbares Ziel gegolten hatten.
Für einen Grossteil der Bevölkerung Russlands hingegen – auch für die nach 1991 unabhängig gewordenen Republiken – schien die Sachlage komplizierter, voller Widersprüche und überlagert durch problematische Entwicklungen. Bei einer Umfrage im Jahr 2021 sagten mehr als 70 Prozent der Russinnen und Russen, durch Gorbatschow sei ihr Land in eine Abwärtsspirale gedrängt worden. Und wann immer Gorbatschow für die Wahl in ein politisches Gremium in Russland kandidierte, scheiterte er. Weshalb?
Bis über die Jahrtausendwende hinaus hatte Russland eine tiefere Wirtschaftsleistung als während der Zeit der alten, maroden, untergegangenen Sowjetunion. Kein Wunder, dass wir Reporter damals bei Interviews immer wieder hörten, Gorbatschow habe das Land ruiniert. Putin, an der Macht seit 1999, verstieg sich sogar zur Behauptung, der Untergang der UdSSR sei «die grösste Tragödie des 20. Jahrhunderts». Das nutzte und nutzt er jetzt zur Rechtfertigung seines Kriegs gegen die Ukraine.
In den Ländern, die nach dem Ende der UdSSR unabhängig wurden, ist das Urteil über Gorbatschow unterschiedlich. In Litauen vergisst man nicht, dass er im Januar 1991 die Panzer auffahren liess, um Kundgebungen für die Unabhängigkeit zu unterdrücken. Mindestens 14 Menschen starben, über 700 wurden verletzt. Auch nach Tiflis, Hauptstadt Georgiens, schickte Gorbatschow 1989 Panzer. Die Folge: 20 Tote. Über den Konflikt um Nagorno-Karabach im Kaukasus verlor Moskau 1988 die Kontrolle, in einem Massaker in Sumgait (Aserbaidschan) kamen 31 Armenier um, die sowjet-russische Polizei griff nicht ein.
Trotz all dem hier Erwähnten: Michail Gorbatschow war eine Persönlichkeit von historischem Rang. Er änderte den Gang der Weltgeschichte. Der internationalen Öffentlichkeit wurde das erstmals bei der Genfer Gipfelkonferenz von 1985 bewusst. Da trat ein russischer Spitzenpolitiker auf, der, man kann das so vereinfacht sagen, menschlich und nicht als Apparatschik erschien. Gegenüber dem US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan trat er unerwartet weltgewandt auf.
Und er schien willens, die Atom- und Weltmacht Sowjetunion in einen anderen Staat zu verwandeln. Einen, der nicht mehr die Konfrontation mit der nicht kommunistischen Welt anstrebte, sondern sich ehrlich bemühen wollte, Teil einer auf Gewaltverzicht ausgerichteten globalen Gemeinschaft zu werden. Nur: Gorbatschow verharrte in der Illusion, die kommunistische Ideologie sei reformierbar, sei mit Demokratie vereinbar. In diese Richtung wiesen die beiden von ihm betonten Programmpunkte «Perestroika» (Umbau) und «Glasnost» (Transparenz).
Wurde er zum Opfer dieser Slogans? Perestroika mündete für viele Jahre in wirtschaftliches Chaos, das wenige Clevere nutzten, um ungeheuer reich zu werden. Glasnost andererseits brachte den Menschen in Russland Medien- und Meinungsfreiheit. Dem setzte Wladimir Putin jedoch bald nach seinem kometenhaften, von Boris Jelzin geförderten Machtaufstieg nach der Jahrtausendwende ein brutales Ende.
Ich hatte 1994 die Gelegenheit, Michail Gorbatschow in Lausanne für ein ausführliches TV-Interview zu treffen. Spontan-Eindrücke von Spitzenpolitikern mögen oft trügerisch sein – weil sie normalerweise ihre Befindlichkeit hinter einer Fassade verstecken. Gorbatschow war anders: zugänglich, offen – und ich bekam den Eindruck eines, in bestem Sinne, gutwilligen, ja fast naiven Menschen.
Er war zumindest in dem für ihn und die Sowjetunion respektive Russland entscheidenden Moment naiv: Im Dezember 1991 beschlossen Jelzin (Präsident Russlands), Krawtschuk (Ukraine) und Schuschkiewitsch (Belarus) nach einem munteren Jagdausflug, die «alte» Sowjetunion aufzulösen und alle im UdSSR-Verbund zusammengeschlossenen Republiken unabhängig zu machen. Salopp ausgedrückt war das ein Putsch. Gorbatschow nahm die Tragweite dieser Entscheidung offenbar nicht wahr – doch sie schaffte sein Amt ab, jenes des Chefs des Staatenverbunds UdSSR mit über 300 Millionen Menschen. «Gorbi» wurde in Pension geschickt.
Von da an war er nur noch Beobachter des Zeitgeschehens. Wenn er kommentierte, dann auf differenzierte Weise. Kritisch bisweilen gegenüber dem Autokraten Putin, aber auch gegenüber den USA und dem Westen insgesamt. Die Nato habe viele Fehler begangen, Russland brüskiert, äusserte er – allerdings ohne dass er deswegen Putins Krieg gutgeheissen hätte. Nur hörte man von ihm auch nie das Wort «Krieg», das heisst, er widersprach Putins Wahnsinnsformel nicht, Russland führe in der Ukraine nur eine «spezielle Militäroperation» durch.
Der Journalist war während des Zerfalls der UdSSR SRF-Sonderkorrespondent in Moskau.