Die Miene ist eisern, die Stimme rau. «Die Ukraine wollte diesen Krieg nie. Nur Putin wollte ihn»: Wolodimir Selenski (46) eröffnet im Rampenlicht der Weltpresse die Ukraine-Konferenz auf dem Bürgenstock NW. Er bedankt sich bei Bundespräsidentin Viola Amherd (62) für die Gastfreundschaft. Es ist einer der wenigen Momente, in denen der ukrainische Präsident an diesen zwei Tagen lächelt.
Das Wochenende wird in die Schweizer Geschichte eingehen. Einen diplomatischen Gipfel dieser Dimension gab es hierzulande noch nie. 101 Länder treffen sich zu einer Friedenskonferenz für die Ukraine. 57 Staats- und Regierungschefs sind dabei. 4000 Soldatinnen und Soldaten beschützen die Delegationen. Die Schweizer Armee errichtet einen temporären Helikopterlandeplatz. Die Behörden geben 15 Millionen Franken für die Konferenz aus.
Rund 500 Journalistinnen und Journalisten aus 40 Ländern sind in die Zentralschweiz gereist. Sie müssen erst in der Dorfturnhalle von Obbürgen NW ihren Badge abholen und werden dann mit einem Shuttlebus über kurvige Strassen zum Hotelkomplex chauffiert. Vorbei an Checkpoints und den Blicken von neugierigen Anwohnern. Unter den Medienleuten ist Vadym Kolodiichuk, der aussieht wie ein jüngerer Bruder Selenskis.
Der 34-jährige TV-Moderator hat eine lange Reise hinter sich. Zwischen seiner Heimat, dem zerbombten Kiew, und dem traumhaften Bürgenstock liegen mehr als 30 Stunden – und eine ganze Welt. «Bei uns gibts auch Kühe, aber unsere haben nicht solche Glocken am Hals», sagt er. Als die russische Armee seine Heimatstadt vor über zwei Jahren angreift, müssen Vadym Kolodiichuk und seine Kollegen von Rada TV aus dem Bunker berichten. «Wir waren zwei Stockwerke unter der Erde, weil es in den Studios zu gefährlich war.» Nun berichtet er von der Terrasse des Luxusresorts mit fünf Sternen. Im Hintergrund eine der schönsten Aussichten eines der sichersten Länder der Welt.
Während Vadym Kolodiichuk live ins ukrainische TV zugeschaltet ist, treffen die ersten Staatsgäste ein. US-Vizepräsidentin Kamala Harris winkt den Fotografen mit einem «Thanks» lässig zu. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz huscht vorbei, während sein Kollege aus Österreich, Karl Nehammer, mit der Landesflagge posiert. Emmanuel Macron verspätet sich um fast eine Stunde, sagt aber, er spüre bereits den «Spirit of Bürgenstock».
Mit dem Herzen in der Heimat
Zum Auftakt der Konferenz dämpft Bundespräsidentin Viola Amherd gleich einmal die Erwartungen. «Wir werden nicht den Frieden für die Ukraine verkünden können.» Das Ziel sei bescheidener: Man wolle einen Prozess in Richtung eines Friedens anstossen. Russland ist nicht eingeladen. Ein Fehler? «Wäre Putin hier, würden wir sicher zu keinem Resultat kommen. Er blockiert alles und macht einfach, was er will», sagt Kolodiichuk.
Immer wieder vibriert sein Handy. «Ich habe eine App installiert, die vor möglichen Luftangriffen in der Region von Kiew warnt.» Obwohl der ukrainische Journalist auf dem Bürgenstock ist, sind seine Gedanken oft zu Hause. «Ich mache mir Sorgen um meine Eltern und hoffe, dass nichts passiert.» Seine Ehefrau, ebenfalls eine Journalistin, ist zurzeit in den USA. Kinder haben sie keine, auch wegen des Krieges. Momentan sei nicht der richtige Zeitpunkt dafür.
Kirchenglocken gegen den Krieg
Der Sonntagmorgen beginnt früh. Zumindest für einige nordische Teilnehmenden. Die schwedische Vizepremierministerin Ebba Busch, der finnische Präsident Alexander Stubb, Jonas Gahr Støre, Ministerpräsident von Norwegen, Belgiens Premierminister Alexander De Croo und Kaja Kallas, Premierministerin von Estland treffen sich um 6.30 Uhr zu einer gemeinsamen Joggingrunde. Wegen der Wolken leider ohne Aussicht, wie der finnische Staatschef später auf den sozialen Medien schreibt.
Etwas später kommt auch Vadym Kolodiichuk auf dem Bürgenstock an. Nach einer kurzen Nacht in seinem Luzerner Hotel. «Ich lag im Bett und hörte draussen junge Menschen, die in den Ausgang gingen», sagt er. «Da fiel mir ein, dass ich das früher ja auch gemacht habe.» Nun herrscht in seinem Land seit mehr als zwei Jahren eine Ausgangssperre von Mitternacht bis fünf Uhr morgens. «Es fühlt sich an wie ein anderes Leben.»
Um elf Uhr läuten alle Kirchenglocken des Kantons Nidwalden, ein Zeichen für den Frieden. Währenddessen beraten die Spitzenpolitikerinnen und -politiker und Hundertschaften von diplomatischem Personal über eine gemeinsame Abschlusserklärung. Teilweise werde um einzelne Wörter gerungen, heisst es. 84 Staaten stehen hinter dem Communiqué. Warum unter anderem Indien, Saudi-Arabien, Brasilien und Südafrika der Schlusserklärung fernbleiben, führt Aussenminister Ignazio Cassis, 63, nicht aus. «Unterschiedliche Gründe.»
Sonnenuntergang in der Schweiz
Die abschliessende Medienkonferenz beginnt, Viola Amherd steht am Mikrofon: «Dass sich die grosse Mehrheit der hier versammelten Staaten verständigt hat, zeigt, was Diplomatie in geduldiger Arbeit erreichen kann.» Für die Bundespräsidentin ist klar: «Wir haben erreicht, was unter den Vorzeichen zu erreichen war.»
Danach tritt Selenski ans Mikrofon. Der Präsident nimmt sich fast eine Stunde Zeit, die Fragen der Journalistinnen und Journalisten zu beantworten. Auch Vadym Kolodiichuk ist unter ihnen. «Der Präsident wirkt müde, ich sehe das», sagt der Reporter. Doch in einer Sache wird der ukrainische Präsident nie müde: Mit emotionalen Sätzen führt er vor Augen, dass sein Land ums Überleben kämpft. «Wie sollen wir da müde werden?», fragt Selenski und macht klar: «Uns geht es ums Überleben. Um nichts anderes.» Vadym Kolodiichuk flüstert seiner Sitznachbarin zu: «Wir haben gar keine andere Wahl.»
Mit welchem Gefühl reist Vadym Kolodiichuk zurück in die Ukraine? «Die Schweiz ist ein wunderschönes Land, auf jeden Fall», sagt er und zeigt Bilder vom Sonnenuntergang, die er seiner Ehefrau geschickt hat. «Aber es hört sich vielleicht komisch an: Ich habe Heimweh», sagt er. «Auch wenn das Leben zurzeit hart und anstrengend ist: Das Gefühl von zu Hause gibt es sonst nirgends auf der Welt. Deshalb lohnt sich der Kampf und die Ausdauer von jedem von uns umso mehr. Selenski wird nicht aufgeben!»