Es liegt in der Natur der Sache: Spätfolgen lassen sich nicht immer abschätzen. Sie sind quasi der potentiell böse Zwilling jeder Neuerfindung. Das musste nun Paris Hilton erfahren. In der Youtube-Doku «This Is You» redet die heute 39-Jährige so offen wie nie über sich und ihre Karriere.
Das «IT-Girl» der 2000er-Jahre spricht im Film nicht über die Juicy-Couture-Trainingsanzüge, die den Look einer Generation prägten (und unlängst übrigens ein Revival erlebten). Auch nicht über ihre «Simple Life»-Eskapaden, die sie dank 55 Episoden von 2003 bis 2007 in Zusammenarbeit mit Socialite-Frenemy Nicole Richie zum Klischee des dümmlich wirkenden Rich-Girls machten, das nichts Normales auf die Reihe bekommt. Sie spricht über die Spätfolgen. Und wirft damit ein völlig neues Narrativ in die Runde: Paris, die leidet. Paris, die auch schlimme Erfahrungen machen musste.
Sie berichtet von übergriffigen Beziehungen, von häuslicher Gewalt, von Traumata, die ihr in Erziehungscamps zugefügt wurden. Sie sagt, dass sie sich vom Sex-Tape-Leak «elektronisch vergewaltigt fühlte» und stemmt sich gegen den Vorwurf von damals, sie habe «One Night in Paris» zwecks Karriere-Förderung gar selbst verbreitet: «Das war ein privater Moment mit einem Teenie-Mädchen, das Probleme hatte. Und alle haben zugeschaut und gelacht, als wäre es lustig», zitiert «The Sun» aus der Doku. Man habe sie zum «Bösewicht» degradiert, «als hätte ich etwas falsch gemacht». Dabei sei sie einfach ein «verliebtes, 18-jähriges Mädchen gewesen».
Die «Survivor»-Storyline ist neu. Zu gross scheint die Diskrepanz zwischen steinreichem It-Girl und dem kleinen Mädchen, das, wie es heute sagt, eigentlich nur lieb gehabt werden wollte. Es sind im Prinzip zwei grundverschiedene Personen, die Hilton auch gut 20 Jahre später nur schwer auseinander klöppeln kann. Sie sagt: «Ich weiss manchmal gar nicht, wer ich eigentlich bin. Ich habe immer diese Maske auf.» Sie habe diesen Brand, diese Person erfunden. «Kaum ist eine Kamera an, verwandle ich mich in sie.» Sie stecke quasi fest. «Alle sagen, ich sei die erste Influencerin gewesen. Manchmal denke ich, ich habe ein Monster kreiert», sagt Paris.
Diese selbstkritische Analyse, die Konfrontation mit schlechten Erinnerungen, die eine andere Paris zeigen – ist das ein Versuch, ihr Image zu korrigieren? Will Paris jetzt eine andere sein? «Nein», sagt sie, «das wäre eine teure Scheidung.» Das ist traurig, man würde auch ihr ganz zeitgeistig wünschen, dass sie im aktuellen Selflove-Groove aufgehen und sich neu erfinden könnte.
Da steckt sie im Dilemma: Wie sie sagt, möchte sie erst Kinder haben, wenn sie eine Milliarde Dollar verdient habe (sie habe ihre Eier sicherheitshalber schon einfrieren lassen). Doch das geht nur, wenn sie ihrem Brand einigermassen treu bleibt, ihn aber aktualisiert, in den Zeitgeist holt.
Deshalb möchte man sie eigentlich in den Arm nehmen: Sie hat keine andere Möglichkeit, als ihrem Image neue Facetten hinzuzufügen und noch mehr über sich preis zu geben. Denn Zeitgeist ist, Oberflächlichkeit mit Substanz zu füllen, die innere Krise nach Aussen zu tragen. Das muss auch Paris machen. Das Klischee vom happy It-Girl, das leicht dümmlich durchs Leben flattert, braucht Tiefe. Übrigens: Dieses Klischee tat ihr schon damals unrecht. Hilton hat in den letzten 20 Jahren ein überaus erfolgreiches Unternehmen aufgebaut. Die Bezeichnung Hotel-Erbin greift seit jeher viel zu kurz und schmälert das, was sie eigentlich erreicht hat.
Paris Hilton sitzt also irgendwie in der Falle. Sie kann sich nicht wie Madonna oder Miley Cyrus ein neues Brand-Image verordnen. Sie macht keine Musik und dreht keine Filme. Was sie macht? Das war in den Nullerjahren die grosse Frage bei vielen. Sie war oberflächlich gesehen irgendwie einfach berühmt fürs Berühmtsein. Und das ist traurig. Für das damals 18-Jährige Mädchen, das eigentlich nur geliebt werden wollte.