Warten auf das virtuelle Interview – Kate Winslet (49) hatte heute einen späten Start, heisst es. Dann hat sie Mittagspause. Aber schliesslich erscheint sie auf dem Computermonitor, perfekt beleuchtet in einem zum Studio umfunktionierten Hotelzimmer, und wird gleich persönlich: «Ha, ich weiss genau, wer du bist! Wir haben uns schon öfter gesehen!» Die englische Schauspielerin ist auch heute aufmerksam und konzentriert und kann sich offensichtlich gut an vergangene Interviewtermine zu ihren Indie-Klassikern wie «Eternal Sunshine of the Spotless Mind» oder Blockbustern wie «Avatar: The Way of Water» erinnern.
Seit dem Durchbruch 1997 mit «Titanic» ist Winslet zur wahren Kino-Ikone geworden. Am 7. Oktober, zwei Tage nach ihrem 49 Geburtstag, erhält sie deshalb am Zurich Film Festival den Golden Icon Award. Sie freut sich. Es ist ihr erstes Mal in der Limmatstadt, aber sie hat eine vage Erinnerung an eine Reise in die Schweiz während ihrer Kindheit: «Ich durfte damals meine Grossmutter in die Schweizer Alpen begleiten», erzählt sie. «Es war mit Freunden von ihr, und wir wohnten in einem hübschen kleinen Chalet.» Sie müsse um die sechs Jahre alt gewesen sein. Sie weiss nur noch, dass jemand ein Sackmesser hatte. «So eines mit Zapfenzieher, Messer, Nagelfeile und vielem mehr. Ich wollte all die Funktionen zählen und schnitt mich prompt. Ich habe seither eine Narbe am Finger.»
Antiker Tisch als Anstoss für Neues
Kate Winslet bringt ihren neusten Film «Lee – Die Fotografin» mit nach Zürich. Sie spielt darin Lee Miller (1907–1977), bekannt als Model und Künstlermuse. Aber auch – was Winselt besonders wichtig ist – als Kriegsfotografin, die nach der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Dachau den Horror der Naziherrschaft als eine der Ersten mit der Kamera festhielt.
Neun Jahre hatte es gedauert, bis es mit dem Film über Miller alias Lady Penrose klappte. Alles fing damals mit einem Tisch an: «Ich liebe grosse, alte Esstische», holt die Antiquitätenliebhaberin aus. «Freunde aus einem Auktionshaus meinten, es wäre etwas für mich, dieses Stück aus einem Landhaus der Penrose-Familie. In jenem genossen Lee Miller und Roland Penrose die freie Liebe und Dinnerpartys mit Freunden wie Picasso, Max Ernst und Paul Éluard.» Kate Winslet kaufte den Tisch und stellt sich vor, wer daran alles getafelt hatte. «Und dann fragte ich mich, wieso wohl noch niemand einen Film über Lee Miller gedreht hatte.»
Als Star und Produzentin des Films möchte sie, dass man Millers komplexe Persönlichkeit auf neue Art entdeckt: «Sie wurde bislang aus dem männlichen Blickwinkel definiert – als Geliebte und Muse von Man Ray, als ‹Vogue›-Model. Aber das waren ja nur ihre Zwanzigerjahre. Als komplexe Frau im mittleren Alter stieg sie in einen Männerberuf ein, um die Gräueltaten der Nazis für die Leserinnen von ‹Vogue› zu dokumentieren. Frauen wurden nämlich solche Wahrheiten oft vorenthalten.»
Die Liebe zum Schauspiel steckt in Kate Winslets Genen: Ihre Grosseltern führten in Reading, 60 Kilometer westlich von London, ein Theater. Ihr Vater ist Schauspieler, muss aber oft auf dem Bau arbeiten, um die Familie durchzubringen, während die Mutter in einer Bar jobbt. Bereits als Fünfjährige tritt Kate in der Weihnachtsgeschichte als Maria auf. Den Durchbruch schafft sie vor 30 Jahren in Peter Jacksons Teen-Drama «Heavenly Creatures», in dem sie mit ihrer Freundin den Mord an deren Mutter ausheckt. Als sie mit «Titanic» so richtig durchstartet, wird sie für ihre Rundungen kritisiert, lässt sich aber nicht unterkriegen.
Sie spielt Figuren mit Ecken und Kanten und gewinnt über die Jahre einen Oscar («The Reader»), fünf Golden Globes und zwei Emmys. Von Königin Elizabeth II. wird sie mit dem Verdienstorden des Britischen Empires ausgezeichnet. Nun gibts den Golden Icon Award für ihr Lebenswerk. Zeit für eine Standortbestimmung: «Ich fühle mich momentan in der Filmwelt mehr integriert als je zuvor», fasst sie zusammen. «Ich habe bei ‹Lee› die Story selber entwickelt, die Finanzierung organisiert, das Team engagiert und viel gelernt. Ich bin wirklich erfüllt im Leben. Es ist schön, das so sagen zu können in diesem Job, den ich immer noch sehr liebe.»
In den Fussstapfen der Mama
Und diese Liebe hat sie an die nächste Generation weitergegeben: Ihre älteren beiden Kinder, Tochter Mia Honey Threapleton (23) und Sohn Joe Alfie Mendes (20) treten 2021 im britischen Familiendrama «I Am Ruth» an der Seite ihrer Mutter auf. Sohn Bear Blaze Winslet (10) hat ihr und Daddy Ned Rocknroll, der nun wieder unter seinem bürgerlichen Namen Edward Abel Smith läuft, seine Schauspielambitionen ebenfalls schon angekündigt.
Nach Zürich kommt Kate Winslet jedoch mit Antony Penrose, dem Sohn von Lee Miller. Und nur kurz: «Ich würde gern in einem guten Restaurant fein essen gehen. Aber ich weiss nicht, ob die Zeit dazu ausreicht.»