Am 30. April 1945 steht eine Frau in Tarnanzug – sie ist eine Woche zuvor gerade 38 Jahre alt geworden – in einem feudalen Badezimmer. Sie bittet ihren Kollegen, den New Yorker «Life»-Fotografen David Scherman (1916-1997), die Kamera in Position zu bringen. Die Frau, Kriegsfotografin Lee Miller (1907-1977), entledigt sich ihrer Kleider, steigt in die Badewanne. Davor positioniert sie fein säuberlich ihre Kampfstiefel.
Mit angewinkelten Knien blickt die Amerikanerin in die Kamera. Auf dem Beckenrand steht das eingerahmte Konterfei von Adolf Hitler (1898-1945). Das Foto, das Scherman in München von Miller schiesst, wird zum fotografischen Symbol des Tanzes zwischen Schönheit und Grauen. Einige Stunden zuvor hat die Amerikanerin für das «Vogue»-Magazin mit ihren Fotos von Häftlingen im KZ-Dachau bereits selbst eines der wichtigsten Zeugnisse des Nazi-Terrors erschaffen.
Die wahre Geschichte von Lee Miller, die jahrzehntelang fälschlicherweise auf ihren Status als Model, Muse und Mätresse von Regisseur Man Ray (1890-1976) degradiert wurde, war überfällig. Oscar-Preisträgerin Kate Winslet (49) hat der Amerikanerin im Film «Lee» als Produzentin und Hauptdarstellerin ein genauso verstörendes wie bildgewaltiges Denkmal gesetzt, das über die cineastischen Konventionen des Hollywood-Kriegsfilms hinausgeht. «Blick» konnte mit der Britin sprechen – über Schönheit, Sexualisierung und ihren unerlässlichen Kampf für starke Frauenrollen.
Nachdem ich «Lee» gesehen habe, die so eindrückliche Fotos von den Kriegsgräueln gemacht hat, frage ich mich: Gibt es so etwas wie Schönheit im Grauenhaften?
Kate Winslet: Lee Millers Arbeit war insofern wunderschön, als sie die unvergleichliche Gabe hatte, die Wahrheit abzubilden – koste es, was es wolle. Und dann frage ich Sie: Was ist Schönheit? Schönheit ist Macht und Mut, ist Widerstand und Mitgefühl. Schönheit ist die Rückseite der Hand einer 80-Jährigen oder sind die Falten in unserem Gesicht. Meine persönliche Auffassung von Schönheit ändert sich beispielsweise ständig. Und zurück zu Miller: Sie war eine unfassbar uneitle Frau – gleichzeitig war ihr aber sehr wichtig, wie sie dabei aussah. Ich hatte ihre Uniform an – sie war ihr perfekt auf den Körper geschneidert, so etwas habe ich noch nie gesehen. Miller war brillant – weil sie gleichzeitig unglaublich anspruchsvoll war und die Fähigkeit hatte, Menschen so abzubilden, wie sie wirklich sind. Deshalb sind ihre Fotos so einzigartig ...
... und dennoch kämpfte Miller Zeit ihres Lebens für Anerkennung und gegen Vorurteile gegenüber Frauen – vor allem im Journalismus.
Das Mass an Respekt, das ich gegenüber Frauen mit solchen Jobs empfinde, ist schwer zu beschreiben. Ich habe bei der Vorbereitung zu «Lee» unter anderem mit einer Kriegsberichterstatterin gearbeitet – die Situationen, in die sie sich begibt, die Risiken, denen sie sich aussetzt! Das alles tut sie, weil sie ihre Arbeit als so wichtig empfindet.
Millers Arbeit wurde von der männlich-dominierten Öffentlichkeit oft übersehen – zugunsten von Schlagzeilen über ihre Liebeleien, ihr Sexleben. Hat Sie das zusätzlich motiviert, sich dieser Person und ihrer ganzen Komplexität anzunehmen?
Das war für mich das einzig Wichtige bei diesem Film – Lee Miller komplett neu zu definieren. In der Menschheitsgeschichte hören wir von Frauen meistens zuerst von deren Liebesleben. Das macht mich (flucht) einfach unfassbar wütend. Und es passiert ja auch noch heute. Kennen Sie Marianne Faithfull? (britische Sängerin, Anm. d. Red.)
Ja.
«Die Exfreundin von Mick Jagger» Wieso, wieso, wieso, wieso?! Es war für uns zentral, Lee mit ihrer Männerliebe, ihrer Lebensfreude, ihrer Lust an Sex, ihrem Selbstvertrauen darzustellen – aber wir haben sie niemals sexualisiert. Wenn immer wir Lee im Film nackt sehen, war es ihre eigene Entscheidung.
Gab es Wesenszüge von Lee Miller, die für Sie speziell herausfordernd waren?
Darüber habe ich noch gar nicht wirklich nachgedacht. Alles war in diesem Sinne herausfordernd, es gab aber nichts an ihr, das ich nicht mochte. Ich habe vor allem ihre unbändige Fähigkeit bewundert, immer weiterzumachen. Und weil ich mich über eine so lange Zeit emotional mit ihr befasst habe, hatte ich bald das Gefühl, sie tatsächlich zu kennen.
Das klingt sehr schön.
Ich hatte Zugang zu Teilen ihres Lebens, über die ihr Sohn Anthony Penrose noch nie geschrieben hatte. Und obwohl er zuvor oft betont hatte, dass er seiner Mutter vor deren Tod wieder näher gekommen war, merkte ich in meinen persönlichen Gesprächen mit ihm: Es ist alles sehr kompliziert. Ich habe in die dunkelsten Ecken ihres Lebens leuchten können – hier habe ich Lee wirklich spüren können. Ich habe gemerkt: Wenn ich diesen Teil ihrer Geschichte nicht zeige, dann tut es niemand.
Sie meinen, die Grausamkeit des Krieges zu zeigen – und Millers Kampf gegen Widerstände?
Frauen sind oftmals dann am interessantesten, wenn sie entlang der gefährlichen, hässlichen Wahrheit balancieren. Im Angesicht des Bösen hat Lee genau das getan – um der Welt zu sagen: «Schaut her!» Das hat verflucht nochmal niemand getan. Sie ist einzigartig – und das bringt mich zur Frage zurück, wie ich heute über Frauen mit einem solchen Job denke: Jetzt weiss ich, dass sie einen unfassbaren inneren Mut aufbringen. Ich weiss nicht, ob ich das jemals könnte.
In ihrer Masterclass vom Montag haben sie erzählt, dass es im Vorfeld des Films Männer gegeben habe, die die «Essenz von ‹Lee› nicht verstehen können.» Da habe ich mich gefragt: Was gibt es da nicht zu verstehen?
Ich will natürlich nicht alle in denselben Topf werfen, aber Männer haben gerne etwas zum Anschauen. Gerade vorhin hat mich ein Journalist gefragt, wieso ich die früheren Jahre ihres Lebens ausgespart habe. Genau das ist der springende Punkt: Für männliche Investoren war es schwierig, zu verstehen, warum ich die nicht so glorreichen Zeiten, in denen Lee Miller Model ...
... und Muse ...
... und Muse von Man Ray war, nicht gezeigt habe. «Warum fängst du den Film nicht mit Man Ray an?», habe ich oft gehört. Weil das der uninteressanteste Teil ihres Lebens war! Glauben Sie mir, ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Ich habe während zweier Tage mit meiner Co-Autorin eine Lee-Miller-inspirierte Tour durch Paris gemacht. Wir waren bei Cartier. Wir waren sogar in der Wohnung, in der Lee Miller mit Man Ray gewohnt hat. Von deren Stufen aus er sie anflehte, sie nicht zu verlassen. Wo so viele Fotos entstanden. Ich habe alles getan, um zu wissen, wer diese Frau wirklich war. Und dann habe ich gemerkt, dass ich mich eben nicht auf diesen Teil ihres Lebens konzentrieren möchte.
Eine gute – aber auch risikoreiche Entscheidung.
Wissen Sie, warum? Irgendwann wird jemand eine hervorragende zwölfteilige Serie über Lee Miller drehen – in einem Film hätten wir niemals allen Facetten ihres Lebens gerecht werden können. Es sind aber die zehn Jahre in «Lee», die sie zu der Person machten, die sie für den Rest ihres Lebens bleiben würde. Sie hat immer irgendwie weiter gemacht, hat spät in ihrem Leben den Alkoholismus überwunden, hat funktioniert. Später wurde sie sogar noch Cordon-bleu-Köchin. Klar war sie auch eitel – allerdings nicht während des Kriegs. Weil es nicht wichtig war.