«In meinen Träumen höre ich deine Stimme, die sagt, ich könne glücklich sein, wenn ich es bloss zulasse. Und dich gehen lasse. Aber ich will dich nicht gehen lassen.» Mikaela Shiffrin singt die Worte mit gefühlvoller Stimme, spielt dazu Gitarre. Neben dem Video von ihr laufen Bilder ab, die Vater Jeff Shiffrin und das gemeinsame Leben zeigen: mit Mikaela als Baby, auf der Piste, im Restaurant, tanzend an einer Hochzeit. Shiffrin hat das Lied für ihren verstorbenen Dad mithilfe ihrer Mutter Eileen, 61, geschrieben und vor ein paar Tagen in den sozialen Medien veröffentlicht.
Mit 25 Jahren ist Shiffrin auf gutem Weg, die grösste Skirennfahrerin der Geschichte zu wer-den: Mit 68 Weltcupsiegen liegt sie hinter Ingemar Stenmark (86) und Lindsey Vonn (82) auf dem dritten Platz, dazu ist sie fünffache Weltmeisterin und zweimalige Olympiasiegerin.
Neben der Piste ist die US-Amerikanerin eloquent, selbstironisch, offen. Auf Social Media tanzt, singt und musiziert sie – egal, ob sie es kann oder nicht – mit Hingabe, freut sich über kleine Dinge wie ein Teenager. Sie macht aber auch keinen Hehl daraus, dass sie zu vielem bereit ist, um die Beste zu sein. Wie sie auf Ferien verzichtet, um nicht aus dem Rhythmus zu kommen. Dass sie früher das Training empfand, als würde sie eine mathematische Aufgabe lösen: Wie kann ich dieses Tor noch besser fahren?
Seit sie vor zehn Jahren ihr Weltcup-Debüt gab, führt ihre Karriere nur bergauf, kleinere Verletzungen ausgenommen. Und dann – Ende Januar 2020: Shiffrin tourt für den Weltcup mit ihrer Mutter durch Europa, als ihr Bruder Taylor, 28, sie über einen schweren Heimwerker-Unfall des 65-jährigen Vaters informiert. Die beiden fliegen sofort heim in die USA und sind in den letzten Stunden von Jeffs Leben bei ihm.
In einem langen, herzzerreissenden Video im September erzählt Mikaela, dass sie sich zu ihm ins Spitalbett legte und dort neun Stunden blieb, bis er am 2. Februar verstarb. Auch seither hat Shiffrin auf ihren Plattformen immer wieder offen über den Verlust gesprochen. «Dort fällt es mir leichter, als wenn mich jemand direkt fragt», sagt sie. Ihre Offenheit solle anderen in ähnlichen Situationen Trost spenden wie auch sie Zuspruch erhalte.
Die Familie Shiffrin hatte einen extrem engen Zusammenhalt. «Ich weiss nicht, wie ich ohne ihn überlebe. Er war unser Sicherheitsnetz.» Während Eileen Mikaela seit je während des ganzen Weltcup-Winters begleitet und die wichtigste emotionale Stütze ist, war Anästhesist Jeff derjenige, der sich im Hintergrund um alles kümmerte.
Er war erste Anlaufstelle, wenn es ein Problem gab, weil er für alles eine Lösung hatte. Er reparierte alles, recherchierte, buchte die Reisen, kam wenn möglich als Fan an die Rennen. Und natürlich haben die Shiffrins unzählige Stunden auf den Pisten verbracht, als die Kinder noch klein waren, die Eltern haben sich sogar beim Skifahren kennengelernt. «Seid nett, denkt zuerst nach, habt Spass», habe Jeff ihr und Taylor stets mitgegeben. Der Spass aber ist nach dem Tod erst mal weit weg. «Ich habe mir früher den Kopf darüber zerbrochen, wie ich gewinnen kann. Dann starb mein Vater, und ich gab das Skifahren ganz auf und dachte, dass ich gar nicht mehr zurückkommen würde.»
«Das Skifahren war der einzige Ort, an dem ich atmen konnte. Dad wäre stolz gewesen, wie gut ich gefahren bin.»
Mikaela denkt an die langen Monate in Europa im Winter, weit weg von ihren Liebsten. Und sie fragt sich, ob eine Sportkarriere diesen Preis wert ist. Nach ein paar Wochen steht sie wieder auf den Ski, für ein paar Tage Training in den USA.
Zwar hat sie ein schlechtes Gewissen, während des Trauerns ans Skifahren zu denken. Doch dann spürt sie, dass es ihr guttut. «Es war der einzige Ort, an dem ich atmen konnte. Mich auf meine Technik fokussieren. Dad wäre stolz gewesen, wie gut ich dort technisch gefahren bin. Das Skifahren ist auch ein Ort des Heilens.»
Schon vor diesem Schicksalsschlag hat Shiffrin sich fast poetisch übers Skifahren geäussert. Es sei wie Fliegen oder Tanzen, zumindest in den Momenten, in denen sie Belastung und Druck überwinden könne und diese Leichtigkeit spüre. «Dann existieren alles andere und die Welt nicht mehr.» Diese Momente gebe es auch heute noch genug, sagt sie ein paar Tage vor der WM in Cortina d’Ampezzo, wo von ihr wieder Goldmedaillen erwartet werden.
Zwei Weltcups hat sie diesen Winter gewonnen, obwohl sie im vergangenen Jahr einen Drittel weniger trainiert hat als normal. Doch diese Augenblicke seien alles wert. «Ich kann mir nichts anderes vorstellen, das einem dieses Gefühl gibt.» Das Tollste überhaupt sei es, die perfekte Kurve zu fahren.
Auch das haben ihr ihre Eltern mitgegeben: immer danach zu streben, besser zu werden. Das «habt Spass» in Jeffs Motto für seine Kinder bedeutete für ihn nicht rumzuspielen, sondern hart für etwas zu arbeiten. Die Freude des Fortschritts: Das hat Shiffrin verinnerlicht, auf und neben der Piste.
Also auch, wenn sie eine Gitarre in der Hand hält: Dann übt sie so lange, bis sie das gewünschte Lied spielen kann. Oder bis sie ihren Schmerz durch eine Komposition ausdrücken kann. «Ich erinnere mich, wie du im Dunkeln meine Hand hieltest. Damals, als du versprachst, dass wir nie getrennt sein würden. Und jetzt sind wir hier. Und ich wünschte, ich könnte zurück zu den Tagen, an denen alles Sinn machte.»