Wollen Sie etwas Peinliches hören?», fragt der US-Botschafter. «Als Kind wollte ich Banker werden. An Halloween zog ich einen Anzug an – ich war wohl das langweiligste Kind überhaupt!» Nie hätte Miller gedacht, dass es ihn mal in die Schweiz verschlagen und er von seinem Wohnzimmer aus auf die Berner Alpen blicken würde. Dabei gab es im Leben des 44-Jährigen durchaus Hinweise darauf.
Doch erst einmal welcome! Neben der US-Botschaft in Bern, hinter einem bewaffnet bewachten Durchgang, versteckt sich ein Garten, der zu einem Haus aus dem Jahr 1912 führt. Scott Miller hat seinen Anzug und das Interieur auf sich zugeschnitten. An den Wänden der Residenz hängen seit Kurzem Werke, die er ausgesucht hat.
Kunst ist ihm so wichtig, dass er sogar in einem Museum geheiratet hat. Im Institut für Zeitgenössische Kunst in Boston gab er seinem Mann vor 14 Jahren das Jawort. «Tim und ich durften damals nur in vier Staaten heiraten.» Ihre Heimat Colorado gehörte nicht dazu. «Vor Kurzem wäre es undenkbar gewesen, dass ich hier mit meinem Ehemann wohne. Verrückt, oder?»
«Es weckt mich jeden Morgen auf»
Das farbenfrohe Gemälde «Jenna, Friday Night in Brooklyn» fällt in der Residenz als Erstes auf. Aliza Nisenbaum wuchs in Mexiko als Tochter eines jüdischen Russen und einer skandinavisch-amerikanischen Mutter auf. Ihr Porträt einer Salsa-Tänzerin «weckt mich jeden Morgen auf», sagt Miller. Und erinnert ihn an den «unverzichtbaren Beitrag der Einwanderer zum Gefüge der USA». Am Abend unseres Treffens hat er 120 Gäste dazu eingeladen, durch seine Residenz zu spazieren und sich seine Kunstwerke anzusehen.
Dort sehen sie auch ein Porträt des Künstlers Man Ray, der eigentlich Emmanuel Radnitzky hiess, sich aber eine neue Identität zulegte, um nicht Opfer von Antisemitismus zu werden.
Der «unermüdliche Geist der Einwanderer auf der Suche nach Sicherheit, Chancen und der Möglichkeit, einen Beitrag zu einer Nation zu leisten», macht für Miller Amerika aus. Zur musikalischen Eröffnung des Abends hat er ein Duo aus der Ukraine ausgewählt. Mutter und Tochter sind beide vor dem Krieg in die Schweiz geflohen.
Die Schweiz in Colorado
Bevor Scott Miller 2021 zum Botschafter ernannt wurde, war er tatsächlich Banker geworden. Ausgerechnet bei der UBS in Boulder, Colorado, jenem Staat, der «die Schweiz der Rocky Mountains» genannt wird und den er mit seinen zwei Berner Sennenhunden erkundete. Die Zeichen wiesen schon damals Richtung «Switzerland». Phipps und Maggie sind inzwischen gestorben, und für einen neuen Hund habe er zu wenig Zeit, sagt Miller. «Sie bringen mich noch zum Weinen, wenn wir weiter darüber reden.»
Also Themenwechsel: «Am 7. April 2021 erhielt ich einen Anruf mit seltsamer Nummer», erzählt er. «Bestimmt ein Werbeanruf», denkt Miller – und geht trotzdem ran. Plötzlich hat er Joe Biden am Apparat, der ihm seine Aussenpolitik-Ziele erläutert. «Ich kenne die Bidens seit 14 Jahren», sagt Scott Miller. «Der Präsident ist ein guter Freund, seine Frau ebenfalls.» Der US-Präsident fragt, ob er bereit sei, die Koffer für die Schweiz zu packen. «Ich bitte um eine Nacht Bedenkfrist» – antwortet der.
Ein Ehemann mit Gewicht
Die Anfrage des Präsidenten hat mit jenem Mann zu tun, der jetzt die Holztreppe hinunterkommt. Tim Gill (70) ist ein wichtiger Grund, warum Scott Miller als Quereinsteiger zum Botschafter ernannt wurde. Gill ist in den USA eine Ikone der Schwulenbewegung und ein millionenschwerer Unterstützer der Demokraten. Gut gelaunt setzt Gill sich ans Klavier und spielt uns eine Sonate vor. «Ich hab ja mal versucht, dir den ‹Flohwalzer› beizubringen», sagt er lachend zu Scott. «Da ist leider alle Mühe vergebens», gesteht dieser.
Durch den Verkauf seiner Softwarefirma wurde Tim Gill einer der 400 reichsten Männer in Amerika. Mit dem Geld kämpft seine Stiftung gegen die Diskriminierung von queeren Menschen. Als Wahlkampfspender hat er in Washington Gehör.
«Ich war bisher ziemlich direkt, manche würden vielleicht sagen undiplomatisch»
Scott Miller
Seit Amtsantritt erfüllt Scott Miller nun den Auftrag seines Freundes und Präsidenten. Und ist dabei auch schon angeeckt: Die Schweiz könne sich nicht «als neutral bezeichnen und zulassen, dass eine oder beide Seiten ihre Gesetze zum eigenen Vorteil ausnutzen», liess er sich zitieren. Genau das geschehe jedoch beim Krieg Russlands gegen die Ukraine.
«Ich war bisher ziemlich direkt, manche würden vielleicht sogar sagen undiplomatisch», sagt Miller mit einem nachdenklichen Lächeln. «Aber ich hoffe wirklich, dass die Schweiz als wichtiger Finanzplatz mehr tut, um schmutziges Russengeld zu finden, das unter die Sanktionen fällt. Und es einfriert.» Und er wünscht sich, dass die Schweizer die schlimmen Nachrichten aus Kriegsgebieten nicht ignorieren. «Manchmal verliert man das Bewusstsein dafür, dass da Menschen sterben. Mütter, Onkel, Kinder.»
«Solidarität mit Israel»
Die aktuelle Situation im Nahen Osten beschäftigt den Botschafter ebenfalls. «Die USA verurteilen die schrecklichen Angriffe auf Israel. Wir stehen in Solidarität mit der Regierung und dem Volk Israels.»
An den Wänden seiner Residenz hat er auch die Fotoserie «Invisible Children» von Rania Matar aufgehängt. Die libanesisch-stämmige Künstlerin zeigt Flüchtlingskinder aus dem ganzen Nahen Osten – und macht ihre oft übersehenen Geschichten sichtbar.
Abtauchen in der Schweiz
Wie haben sich Scott Miller und sein Mann angesichts dieser turbulenten Umstände in Bern eingelebt? Gill ist wegen seiner Arbeit in den USA ab und zu weg, was Miller nicht immer gefällt. Die beiden kamen zusammen, als Miller 23 war. Er war es, der einen Heiratsantrag machte. Bei der Fast-Food-Kette Taco Bell in Boulder, Colorado, holten die beiden ein Dessert und schauten der Sonne beim Untergehen zu. «An diesem Abend verlobten wir uns.» Tim Gill liebt es, «dass Scott alles Mögliche mitmacht». Was heisst: Snowboarden, Heliskiing oder Tauchen.
Abgetaucht ist Scott Miller auch schon in der Schweiz. «Staatssekretärin Livia Leu hat mir empfohlen, in der Aare zu schwimmen.» Diesen Rat habe er natürlich befolgt. Und schiebt schmunzelnd hinterher: «Diese Taufe ist doch hierzulande Pflicht, damit man seine Aufenthaltserlaubnis nicht verliert, oder?»