Gestern Toronto, heute Zürich. Sebastião Salgado schiebt die Müdigkeit beiseite. Seine blauen Augen sind von buschig weissen Brauen umrandet. Der Mann ist eine Legende, seine Werke gelten als prophetisch. Im Februar wurde der rastlose Missionar 79. Sechs Jahre lang bereiste er die Regenwaldregion, besuchte zwölf indigene Völker in den entlegensten Winkeln des Amazonas, oft unter abenteuerlichen Umständen. 2016 brach er sich beim Überqueren eines Flusses die Kniescheibe. In sich ruhend, lädt er zur privaten Führung durch die Ausstellung «Amazônia».
Man ist erschlagen von der Ästhetik der Urvölker. Der Fülle und Schönheit, der Unberührtheit und Fremdheit eines der letzten Paradiese der Menschheit. Für die Rettung ist es seiner Meinung nach noch nicht zu spät. «Ich wünsche mir von ganzem Herzen, mit all meiner Energie und Leidenschaft, dass meine Aufzeichnungen in 50 Jahren nicht die einer verlorenen Welt sein werden. Amazônia muss weiterleben. Darum bin ich hier.»
Sebastião Salgado, wie haben Sie den Alltag im Dschungel erlebt?
Ich reiste ab 2016 intensiv in den Amazonas, verschwand manchmal wochen- und monatelang im Wald und kam mit neuen Geschichten und Gefühlen zurück. Zu einigen Völkern, wie den Yanomami, pflege ich noch heute Kontakt. Als erster Nicht-Indigener durfte ich jedes Dorf des Zo’é-Volkes besuchen.
Wie friedvoll ist dieses Leben?
Die Menschen leben oft noch in intakten Gemeinschaften und völligem Frieden mit ihrer Umwelt, manche in völliger Isolation. Sie jagen mit Pfeil, Bogen und Blasrohren und sind grösstenteils unbekleidet. Andere haben mehr Kontakt und tragen Kleidung. Sie alle sind bestrebt, ihre Kultur und Tradition zu bewahren, wenn auch nur noch zu zeremoniellen Anlässen. Der Regenwald ist so farbenfroh.
Warum fotografieren Sie ihn in Schwarz-Weiss?
Es ist eine Abstraktion, ich transformiere alles in Grautöne. Das erlaubt mir, die Aufmerksamkeit dahin zu lenken, wo ich sie haben will. Ich mag keine Klischees. Im Gegenteil: Die Welt in Hell-Dunkel ist bereichernd, komplex – und sehr zerbrechlich.
Sebastião Ribeiro Salgado Júnior ist nicht nur ein Macher, sondern ein Kämpfer. Er kam als sechstes von acht Kindern in Aimorés (Brasilien) zur Welt. Mit 20 muss er entscheiden, ob er in den Untergrundkampf gegen die Militärjunta zieht. Er emigriert, macht Karriere als Ökonom im Kaffeehandel. Mit 26 bringt er sich das Fotografieren bei. Heute zählt er zu den berühmtesten Fotoreportern der Gegenwart. Mit seiner Frau Lélia Wanick Salgado lebt er in Paris. Alle Projekte realisiert das Power-Tandem gemeinsam!
Mit «Amazônia» haben Sie in zwei Jahren 1,4 Millionen Menschen erreicht. Stolz?
Dass ich den Fokus auf den grössten Schatz meines Landes werfen kann, macht mich stolz. Ein für die Ausstellung komponierter Audiotrack des französischen Musikers Jean-Michel Jarre begleitet die Besucherinnen und Besucher auf dem Rundgang. Ich zog als Fotograf durch die Welt, dokumentierte die industrielle Revolution, den zügellosen Konsum, die drastischen Auswirkungen des Klimawandels, Hungersnöte und die hässliche Fratze des Krieges …
… und wurden schwer krank.
Ja, der Völkermord in Ruanda konfrontierte mich mit unfassbarem Leid. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, Körper und Geist rebellierten. Ich zog mich von der Fotografie zurück. In dieser Zeit vermachten mir meine Eltern, die sehr alt waren, eine Rinderfarm. Zuerst dachte ich, ich würde jetzt Bauer. Doch das Land war zerstört und verdorrt. Meine Frau Lélia kam auf die wunderbare Idee, den Wald wieder aufzuforsten, und wir starteten das Pro-jekt Instituto Terra. Wir pflanzten drei Millionen Bäume mit über 300 Arten, 2000 neue Wasserquellen entstanden. Dabei geschah ein Wunder: Mit den Bäumen, Vögeln, Termiten, Säugetieren kam das Leben zurück. Sogar der Leopard wurde wieder heimisch.
Haben Sie heute ein anderes Bild von Schönheit?
Schönheit ist für mich das Gleichgewicht eines Ortes und des Lichts, Würde, eine starke Präsenz. Wenn ich einen Baum fotografiere, dann respektiere ich ihn, denn er hat eine grosse Würde. Diese Gedanken im Kleinen haben bei mir Grosses bewirkt und in mir den Wunsch reifen lassen, mir den Planeten genauer anzusehen und die Natur zu fotografieren.
Plagen Sie noch Albträume?
Ich hatte den Glauben an die Spezies Mensch verloren, bin heute wieder viel hoffnungsvoller und glücklicher. Wache ich morgens auf, denke ich an die Fotografie. Träume ich, dann von den Leuten, die ich fotografiert habe. Wenn ich einen Albtraum habe, dann von einer Kamera, in der kein Film drin ist, während sich vor mir gerade die perfekte Szenerie präsentiert.
Sind Bilder stärker als Worte?
Trotz all den emotionalen Aspekten, die Fotografie mit sich bringt, bin ich hinsichtlich ihrer Kraft ambivalent. Ich glaube nicht, dass Bilder etwas am Weltgeschehen ändern können. Die Fotografie hat mir aber erlaubt, viel über unseren Planeten zu erfahren. Ich habe mehr als 130 verschiedene Länder bereist und die Bewohner wirklich kennengelernt. Fotografie macht etwas Unglaubliches möglich: Es entsteht eine Verbindung zwischen dem Fotografen und der Person, die er fotografiert. Im Fall Amazoniens kann die Kombination mit der Arbeit von Umweltinstitutionen eine Bewegung anregen. Ich kann ein Bild machen, das die Menschen mögen, das vielleicht sogar ein Ikonenbild wird. Das bewirkt am Ende jedoch nichts. Denn es muss immer Teil einer Bewegung sein, zusammen mit einer Botschaft, einem Text, dem Willen von Regierungen, dem Engagement von jedem Einzelnen.
Was bedeutet Ihnen Reichtum?
Ich bin nicht reich, ich bin nur ein Fotograf. Berühmt zu sein, hat Vorteile: So findet das Geld von «Amazônia» seinen Weg zurück in unser Projekt Instituto Terra. Dank dem Zurich Forest Projekt können wir dieses Ökosystem für viele Jahre weiter restaurieren.
Sie haben uns mit «Genesis» verzaubert. Nun tauchen wir in den Urwald ein. Welche Botschaft geben Sie uns mit auf den Weg?
Während es mir bei «Genesis» um die Dokumentation von Orten auf der Erde ging, die unberührt geblieben sind, geht es hier um die Idee, dass Menschen nachhaltig leben können und wir indigene Gemeinschaften respektieren. Es gibt keine Brände, keine Zerstörung zu sehen. Ich präsentiere ein anderes Amazonien. Eines, das für immer dort bleiben muss! Ich möchte ein Bewusstsein dafür schaffen, wie wundervoll, vielfältig, schön die Natur und die Menschen dort sind. Damit wir sie lieben lernen – und Amazonien verteidigen können.
Bis 13. August, Maag Halle Zürich, www.amazonia-exhibition.ch