Der Künstler ist konzentriert am Werk, es riecht nach Farbe, Lack und Spraydose, auf dem Handy in seiner Linken ein Foto des Objektes, das er nachsprüht: eine Turnerin, die auf Trümmern einen Handstand macht. Das Original von Banksy befindet sich seit Ende des vergangenen Jahres auf einem zerstörten Haus in der ukrainischen Stadt Borodjanka.
Der Street-Art-Profi, der das Bild im Auftrag der Ausstellungsmacher in der Zürcher Halle 622b auf eine Leinwand sprayt, möchte anonym bleiben. Genau wie Banksy selbst. Es gehört zum ungeschriebenen Gesetz, nach dem der britische Star-Künstler funktioniert, dass er Veranstaltungen zu seinen Ehren weder autorisiert noch kommentiert. «Aber wir sind alle möglichen Schritte gegangen, um die Ausstellung in seinem Sinn zu gestalten und ihn dies wissen zu lassen», sagt Virginia Jean, Kuratorin von «The Mystery of Banksy – A Genius Mind», die bis Ende Mai in Zürich zu sehen ist. Seit der Weltpremiere im März 2021 in München haben mehr als 1,2 Millionen Menschen den Überblick über Banksys Gesamtwerk (von dem viele Werke als Original gar nicht mehr existieren) gesehen. Es ist die weltweit erfolgreichsten Schau über Banksy.
Viel weiss man nicht über den britischen Street-Art-Künstler, der mit «Stencilling» arbeitet, dem Sprayen mit Schablonen. Erstmals tauchten seine sozialkritischen Werke an Wänden seiner Heimatstadt Bristol auf, später in London, dann weltweit. Gemeinhin wird angenommen, dass Banksy ein Mann Mitte fünfzig ist – er könnte aber genauso gut eine Frau oder Teil eines Kollektivs sein. Fest steht, dass mittlerweile ein grosses Team für ihn arbeitet. Kein Wunder, schliesslich erzielen seine Werke bei Versteigerungen zweistellige Millionenbeträge.
«Mir gefällt der Gedanke, anonym aufzustehen und die Dinge zu fordern, an die sonst niemand glaubt – wie Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit», sagte Banksy mal (seine Kommunikationskanäle sind seine Homepage und Social Media). «Dadurch dass er selbst kein Gesicht und keine Stimme hat, gibt er diese an Menschen, die sonst nicht gesehen und gehört werden», sagt Virginia Jean. Banksys Waffen im Kampf um mehr Menschlichkeit: Sprühdosen, Schablonen, die Dunkelheit der Nacht und sein scharfer Verstand.
Das Mysterium um Banksy macht sicherlich einen grossen Teil seiner Faszination und seines Erfolges aus. Aber da ist noch mehr, sagt Virginia Jean. «Er schafft es, das Weltgeschehen mit einfachen Darstellungen treffender zu kommentieren als mit tausend Worten.» Zum Beispiel mit seinem neusten Werk, aufgetaucht am 14. Februar 2023 an einer Hausmauer in der südenglischen Stadt Margate: «Valentinstag-Mascara» zeigt eine offenbar verprügelte Frau vor einer Kühltruhe, aus der Männerbeine ragen. Ein Statement gegen häusliche Gewalt. Auch Staatsgewalt, Krieg und Unterdrückung gehören zu den Dingen, die Banksy immer wieder an den Pranger stellt. Und der Kapitalismus. Auch wenn der Künstler sich selbst diesem keineswegs entzieht.
Kein Wunder, wenn man die Preise sieht, zu denen seine Werke verkauft und versteigert werden. Eines der teuersten: «Love is in the Bin», 2021 für gut 16 Millionen britische Pfund versteigert. Das Originalbild – «Girl with Balloon» aus dem Jahr 2002 – wurde 2018 für eine gute Million versteigert und direkt danach durch eine im Rahmen eingebaute Vorrichtung zum Teil geschreddert. Die «kaputte» Version brachte ein Vielfaches des Originals ein.
Dass Banksy selbst mit dem Merchandising, den Drucken und Originalen Unmengen verdient, bringt ihm oft Kritik ein. Dabei spendet er einen grossen Teil dieses Geldes. So fliessen zum Beispiel alle Einnahmen seines «Walled Off»-Hotels in Bethlehem (gegenüber der Sperranlage, welche das Westjordanland und Israel trennt) an die von den Konflikten in der Region betroffene palästinensische Community.
Die 16,8 Millionen Pfund, die das Bild «Game Changer» 2020 einbrach-te – eine Hommage ans Pflegepersonal während Corona –, kamen dem britischen Gesundheitsdienst zugute. Und immer wieder steckt Banksy Geld in sein Herzensprojekt, das Boot «Louise Michel», das im Mittelmeer Flüchtende rettet. Ein Teil der Ticketverkäufe der Zürcher Ausstellung kommen ebenfalls diesem Projekt zugute.
Messerscharfer Beobachter, gnadenloser Auf-Missstände-aufmerksam-Macher, hartnäckiger Systemkritiker, mysteriöser Mensch ohne eigene Identität. Wer ist er nun also, dieser Banksy? Im Laufe der Jahre tauchten immer wieder Namen und Gesichter auf, die mit ihm in Verbindung gebracht wurden. Sie alle dementieren, Banksy zu sein. Ob Kuratorin Virginia Jean, in Berlin lebende Britin, die Identität des Street-Art-Idols kennt? Sie lächelt vielsagend. «Es ist nicht wichtig, wer er ist. Banksy ist eine Stimmung, eine Atmosphäre, ein Zeitgeist.» Und wer weiss, wenn seine Anonymität Geschichte wäre, wäre es vielleicht auch seine Kunst.