So nah sind sie sich noch nie gekommen – zusammengepfercht in einer Backstage-Abstellkammer: Ann Demeester (49), die Direktorin des Kunsthauses Zürich, Michael Ringier (75), Kunstsammler und Verwaltungsratspräsident von Ringier AG, Susanne Walder, die Chefredaktorin des Ringier-Kulturmagazins «Interview», Mirjam Varadinis, die Kuratorin der Ausstellung – und die Künstlerin, die diese Szene arrangiert.
Marina Abramović (77). Körperkontakt, beklemmende Enge, Unbehagen, Überschreitung von physischen und mentalen Grenzen. Das ist für die weltberühmte Ikone der Performing Art auch beim Gruppenbild hinter den Kulissen ein Must. «So ist es gut!», sagt Abramović, nachdem sie das Foto auf dem Bildschirm des Fotoapparats genehmigt hat.
Es ist nicht die einzige aussergewöhnliche Inszenierung bei dieser spektakulären Vernissage im Zürcher Kunsthaus. Um in die Ausstellung zu gelangen, müssen sich die Besucher durch eine enge Pforte zwängen, die von zwei splitternackten Menschen flankiert wird. Die Neuinszenierung von «Imponderabilia», einer ikonischen Performance von Marina Abramović und ihrem damaligen künstlerischen Partner Ulay aus dem Jahr 1977, provoziert eine intime Konfrontation, löst Scham und Verunsicherung aus. Zumindest bei den meisten.
Nacktheit ist Kunst
Nüchterner sieht das Staranwalt Peter Nobel: «Ich gehe zweimal pro Woche in die Sauna am Utoquai und habe keine Probleme mit Nacktheit», sagt er und lacht. Dennoch findet auch er die erste grosse Retrospektive dieser grossen Künstlerin «etwas, das man als Kunstliebhaber gesehen haben muss». Dieser Ansicht ist auch Mitgastgeber Michael Ringier, der sich in seiner Eröffnungsrede an seine erste Konfrontation mit der Künstlerin erinnert: «Ich besuchte 1997 mit meiner Frau in New York die Kelly-Galerie, da sehe ich in drei Metern Höhe eine Frau nackt auf einem Fahrradsattel. Ich wusste gar nicht, wie ich damit umgehen sollte.»
«Ich kenne keine Scham, versuche, mit meiner Arbeit sämtliche Tabus zu brechen»
Marina Abramović
Dieses Unbehagen ist Absicht bei der Künstlerin, die 1946 in Belgrad geboren wurde und es mit ihren Performances zu Weltruhm brachte. Die erste grosse Retrospektive ihres Schaffens ist daher von globaler Bedeutung. Susanne Walder, Chefredaktorin von Ringiers Kunst- und Kulturmagazin «Interview», widmet ihr die Covergeschichte vom 15. November: «Die Zusammenarbeit mit Marina Abramović und dem Kunsthaus Zürich ist für uns eine grosse Bereicherung.»
«Balkan Baroque» sorgt für Aufsehen
Im Interview mit dem Journalisten Peter Hossli erklärt die Künstlerin in der Special Edition: «Ich kenne keine Scham und versuche, mit meiner Arbeit sämtliche Tabus zu brechen.» Diese Haltung kommt auch in der Installation «Balkan Baroque» zur Geltung, die – in etwas abgeschwächter Form – ebenfalls im Kunsthaus Zürich gezeigt wird und mit der sie 1997 an der 47. Biennale in Venedig für Aufsehen sorgte.
SRF-Direktorin Nathalie Wappler hat das live gesehen und erzählt der CEO von Ringier Medien Schweiz Ladina Heimgartner von ihren bleibenden Eindrücken: «Der Gestank der Knochen, die blutbefleckte Kleidung der Künstlerin, die Geräusche des Schrubbens waren kaum auszuhalten.» Das Radikale in ihrer Kunst rückt Abramović’ Person oft in ein falsches Licht. «Marina ist geprägt von Liebe», sagt Michel Comte. «Ich habe sie in den 1980ern fotografiert, wie sie am Comer See mit Schülern Papierhütchen faltete. Da war sie so sanft, so authentisch.» Der Schweizer Starfotograf durchlebt gerade grosse Trauer: «Vor wenigen Tagen ist mein Sohn gestorben – nach schwerer Krankheit.»
Die Show im Kunsthaus macht neugierig. «Ich bevorzuge das Traditionelle, lasse mich aber überraschen», sagt Feldschlösschen-CEO Thomas Amstutz, der zu Hause noch ein Kunstproblem zu lösen hat: «Wir müssen noch einen Platz finden für ein 2,30 Meter hohes gemaltes Frauenporträt.»