Am Montagmorgen sitzen Charlotte und Friedrich Merz (69) in der ersten Reihe der Grunewaldkirche in Berlin. Vor den Parteitagen versammeln sich die deutschen Christdemokraten zum Gebet. So ist es Brauch. Am Rednerpult steht Prälat Karl Jüsten (63). Kaum einer hatte den CDU-Vorsitzenden für seinen Kurs in der Migrationspolitik so scharf kritisiert wie der katholische Geistliche. Doch nun lauscht Merz der Predigt. Für die C-Partei ist die Kirche nicht irgendeine «Nichtregierungsorganisation». Sie kann man nicht links liegen lassen, auch wenn es Gegenwind gibt. «Ich vertraue auf ihr Wort», schliesst Jüsten versöhnlich seine Ansprache.
Merz hatte zuvor eine «Asyl-Wende» angekündigt, ein hartes Grenzregime gefordert und eine Begrenzung der Migration als notwendig beschrieben. Einem entsprechenden Antrag im Bundestag hatten auch FDP und AfD zugestimmt. Eine Zusammenarbeit mit der AfD lehnt Merz weiterhin kategorisch ab. Doch das Manöver hat den Wahlkampf verändert und SPD und Grüne mobilisiert. In Berlin haben 160'000 Leute gegen Merz demonstriert.
Merz auf dem Logo der AfD. Am Wochenende demonstrierten bundesweit Hunderttausende gegen den Rechtsruck.
Sebastian GollnowWer ist dieser Friedrich Merz, der mit Unterbrechungen schon so lange auf der politischen Bühne agiert, dass er aus nächster Nähe vier deutsche Kanzler erlebt hat? Ist er ein «Zündler», ein Scharfmacher, einer, der die Mitte-Partei von Helmut Kohl und Angela Merkel nach rechts verschieben will? Seine politischen Gegner versuchen ihm mit solchen Klischees beizukommen. Es gibt kaum einen anderen Politiker Deutschlands, der so unmittelbar auf Zustimmung oder Ablehnung stösst wie er, der im Gepäck seines Werdegangs so viele positive wie negative Zuschreibungen und Vorurteile mit sich herumträgt.
Maurerlehre vorgesehen
Friedrich Merz stammt aus dem Sauerland, 1955 in Brilon geboren, hat aber keineswegs einen lupenreinen katholisch-bürgerlichen Lebensweg hinter sich. In seiner Jugendzeit waren für ihn Zigaretten und Alkohol wichtiger als die Schulnoten. Mit Ach und Krach macht er nach einem Schulwechsel das Abitur, studiert dann doch Jura, obwohl sein Vater schon eine Maurerlehre für ihn vorgesehen hatte. Noch an der Uni lernt er seine spätere Frau Charlotte kennen. Sie erwartet ihr erstes Kind, Sohn Philippe, da sind beide noch unverheiratet. «Bürgerlich bin ich erst geworden, als ich Vater wurde», sagt Friedrich Merz später.
Die Familie wächst, die Töchter Constanze und Carola kommen hinzu. In der Erziehung gibt die protestantische Mutter den Ton an, alle drei Kinder werden evangelisch getauft. Charlotte Merz ist ebenfalls Juristin, macht Karriere, wird Leiterin des Amtsgerichts. Die Familienarbeit wird aufgeteilt. Das Klischee, dass ihr Mann ein rückwärtsgewandtes Frauenbild habe, könne sie nicht bestätigen, sagt sie jüngst in einem Interview. Sie würden eine gleichberechtigte Ehe führen. Dabei hat die 64-Jährige einen Ratschlag parat: «Wichtiger noch als die Frage, wer den Müll runterbringt, finde ich dabei übrigens die mentale Unterstützung.» Auch die Kinder folgen dem Beispiel der Mutter und sind als Philosoph, Medizinerin und als Juristin erfolgreich.
«In gewisser Weise in einer anderen Liga»
Die politische Laufbahn von Friedrich Merz beginnt 1989 im Europäischen Parlament, eine Zeit, die ihn nachhaltig prägt, wie er sagt. Die deutsche Wiedervereinigung begleitet er von Brüssel aus. 1994 wechselt er als Abgeordneter in den Bundestag, noch in Bonn. Da wird der damalige Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble schon auf ihn aufmerksam. Merz sei «in gewisser Weise eine andere Liga», sagt heute der einstige Rivale und langjährige Weggefährte, der CDU-Politiker Armin Laschet. Merz wird unter Schäuble stellvertretender Fraktionsvorsitzender, profiliert sich in der Steuer- und Finanzpolitik, fällt als brillanter Redner auf.
Wegbegleiter und ewige Konkurrenten: Friedrich Merz und Parteikollegin Angela Merkel im Jahr 2000 im Reichstag.
Michael JungIm Februar 2000 tritt Schäuble als Folge der Spendenaffäre von seinen Ämtern zurück. Als Nachfolger hat er zwei junge Talente ins Auge gefasst: Angela Merkel (70) und Friedrich Merz. Sie wird Parteichefin, er Fraktionsvorsitzender. Aus der Doppelspitze, die zunächst durchaus gemeinsam die Erneuerung der Partei vorantreiben will, wird ein lebenslanges erbittertes Konkurrenzverhältnis, dessen Spannungen die CDU – und vielleicht sogar die ganze deutsche Politik – bis heute belasten. Sie wird Kanzlerin, er zieht sich 2009 – vorerst – aus der Politik zurück.
Es ist vor allem der politische Stil, der beide unterscheidet. Aus der Reformerin Merkel wird 2005 die moderierende Kanzlerin, die in der politischen Mitte für Ruhe sorgen will, während Merz gerade die zugespitzte Auseinandersetzung, auch die pointierte Rede als Mittel ansieht, die politische Mitte zu stärken und die politischen Ränder zu schwächen.
Bei Börsengang von Stadler Rail involviert
Nach seinem Ausstieg aus der Politik wird Friedrich Merz Erfolge als Wirtschaftsanwalt feiern. Der Börsengang der Schweizer Firma Stadler Rail gilt als eine Erfolgsgeschichte, an der Merz mitgewirkt und die ihn zum Millionär gemacht hat. Seine Tätigkeit für den Vermögensverwalter Blackrock verwenden seine Kritiker als Beleg für seine angebliche Liebe zur Grossfinanz und fehlende soziale Empathie. In seinem Buch «Mehr Kapitalismus wagen» warnt er 2008 allerdings durchaus vor Exzessen an den Börsen. Doch die einfachen Zuschreibungen bleiben länger haften.
Eltern hatten ihm das Fliegen verboten
Friedrich Merz versucht erst gar nicht, sich gegen all die Klischees zu stellen und sich irgendwie anzupassen. Seine Leidenschaft für das Fliegen leugnet er nicht. Obwohl ihm sein Privatjet immer wieder vorgehalten wird, erklärt er, die schönste Stunde seiner Arbeitswoche sei die Zeit über den Wolken zwischen dem Sauerland und Berlin. Manchmal, nicht immer, fliegt er selbst in die Hauptstadt. Seine Eltern hatten ihm das Fliegen noch verboten wegen seiner schlechten Schulzeugnisse. Und auch die Zeit bei Blackrock nennt er, trotz aller Anwürfe, die schönste Zeit seines Arbeitslebens, weil er die dortige amerikanische Unternehmenskultur so schätze.
Umstrittenes Hobby. Merz besitzt den Pilotenschein und fliegt mit seiner Diamond DA62 auch mal nach Berlin.
Axel HeimkenSeit 2018 wagt Friedrich Merz ein beispielloses Comeback zurück in den politischen Betrieb. Zweimal scheitert er beim Versuch, Vorsitzender der CDU und damit Nachfolger von Angela Merkel zu werden. Erst nach der verlorenen Wahl von 2021 gelingt ihm der Sprung an die Spitze. Er hat die CDU seitdem verändert. Im neuen Grundsatzprogramm ist eine andere Migrationspolitik festgeschrieben, auch in der Innen- und Sozialpolitik setzt die CDU neue Akzente.
Er hat die Partei in diesem Transformationsprozess überraschenderweise weitgehend geeint halten können. Dazu haben er selbst, aber auch seine Parteifreunde einige Lernkurven gedreht. Nun aber muss sich das Projekt Merz-CDU beweisen. Wollen die Deutschen wirklich einen Kanzler, der auch zuspitzt, die klare Kante mehr liebt als das Beschwichtigen und harte Zeiten ankündigt? Ein enger Freund von Merz sagt: «Bei schönem Wetter wählen die Deutschen jemanden wie Friedrich Merz nicht zum Kanzler.» Dazu sei ihnen sein Erfolg, sein Redetalent und auch seine Veränderungsbereitschaft zu unheimlich. Doch von schönem Wetter kann ja eigentlich gerade in Deutschland nicht die Rede sein.