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  4. Weltmeister Alessandro Del Piero spricht vor Schweiz–Italien über die italienische Fussballseele
Alessandro Del Piero im Interview

«Für uns ist es eine Art Religion»

Der Schweizer Vorrunden-Gegner Italien ist wiedererstarkt und neu aufgestellt. Weltmeister Alessandro del Piero blickt in die italienische Fussball-Seele – von der Euphorie 2006 bis zum Desaster 2018. Und er sagt, was für die Schweiz spricht.

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Allessandro Del Piero, Fussball, Nationalmannschaft Italien, USA, SI SPORT 02/2021

Alessandro Del Piero springt 2001 in den Ferien in Miami in seinen Cadillac. Heute lebt er in den USA. 

Gamma-Rapho via Getty Images

Fast 30 Jahre ist es her, seit die Schweiz Italien in einem Länderspiel zum letzten Mal bezwingen konnte. Es war der 1. Mai 1993, Qualifikation für die WM in den USA, und die Schweiz machte mit dem Siegtor von Marc Hottiger im ausverkauften Wankdorf einen grossen Schritt Richtung ihre erste WM seit 1966. Die Gesamtbilanz gegen den südlichen Nachbarn ist aber düster: Von 39 Spielen gegen Italien gewann die Schweiz 8. Nun gibts gleich mehrere Möglichkeiten, dieses Verhältnis aufzubessern: Am 16. Juni im EM-Vorrunden-Duell in Rom und danach in der Qualifikation für die WM in Katar.

Höchste Zeit, dem Gegner auf den Zahn zu fühlen. (Das Gespräch fand 2020 vor der Verschiebung der EM statt) Und zwar mit einem aus der goldenen Generation von Spielern, die nicht nur die Tifosi begeisterte, sondern weltweit Fans fand. Alessandro Del Piero – 91 Länderspiele, 27 Tore – ist mittlerweile 46 Jahre alt und lebt mit seiner Frau und den drei Kindern in Los Angeles, wo er unter anderem ein Restaurant besitzt. Das Feuer für Italien brennt aber noch gleich hell wie eh und je.

Alessandro Del Piero, Sie leben in den USA. Wie nahe sind Sie dem italienischen Fussball heute noch? 
Ich arbeite bei einer italienischen Fernsehstation, bin also jeden Monat in Italien und schaue alle Spiele. Ich analysiere Statistiken und interpretiere die Gefühle der Spieler. Das ist allerdings kein grosser Aufwand, weil ich den Sport immer noch liebe. Es spielt ohnehin keine Rolle, wo du lebst: Als Italiener verfolgst du das Nationalteam. Weil dich bewegt, was geschieht. Für uns ist es eine Art Religion. Ich bin sehr glücklich, dass wir wieder in einer unglaublich guten Phase sind; Roberto Mancini hat einen tollen Spirit ins Team gebracht, wir haben Talente und Potenzial. Der nächste Schritt ist, wieder zu gewinnen, es gibt nichts anderes. Immerhin sind wir für die EM qualifiziert. Dass wir es bei der letzten WM nicht schafften, war ein Albtraum für die italienische Sportgemeinschaft. 

Wie war denn die Stimmung in Italien, als Sie die WM in Russland verpassten?
Es war ein Desaster. Wir fragten uns, ob das wirklich gerade passiert sei. Nach fast 80 Jahren, ich glaube, es waren 74, wussten wir nicht, wie uns geschah. Man ist es nicht gewohnt, eine WM ohne Italien zu sehen. Das löste natürlich eine Menge Kritik aus: am Trainer, an den Spielern, der ganzen Organisation. 

Allessandro Del Piero, Fussball, Nationalmannschaft Italien, USA, SI SPORT 02/2021

Alessandro Del Piero – hier 20 Jahre jünger – wurde mehrfach für seinen Sportgeist und seine Fairness ausgezeichnet. 

Gamma-Rapho via Getty Images

Was wurde unternommen?
Man hat die Situation im gesamten italienischen Fussball analysiert, auch wenn wir mit Juve zum Beispiel ein Team haben, das in den vergangenen Jahren den Champions-League-Final zweimal erreichte. Auch Inter, Lazio und Atalanta bringen sich wieder in Position in Europa und helfen der italienischen Bewegung. Wir haben gelitten, aber ich denke, diese Phase ist nun zu Ende. Und das spiegelt sich im Nationalteam: Viele spielen in Italien, sogar 95 Prozent! Du brauchst eine gute italienische Liga, um jeden Tag besser zu werden, Leistung zu bringen. 

Für eine lange Zeit lebte die italienische Nationalmannschaft von ihren Stars, die bis ins hohe Fussballeralter spielten. Das jetzige Team ist jung, noch ohne ganz grossen Namen. War das eine bewusste Veränderung der Kultur?
Ich glaube, dass es Zufall ist. Jedes Land hat solche Aufs und Abs. Selbst wenn du gut organisiert bist, wenn stets dieselben Leute den Nachwuchs rekrutieren. Aber ja, wir kommen aus einer fantastischen Generation. Meine, die Weltmeister wurde. 20 Jahre lang hatten wir ein unglaubliches Team. Diese Generation war ausser Kontrolle – bezüglich Talent, Qualität der Spieler, im Menschlichen, es war fantastisch. Bei einem solchen Segen kann es passieren, dass du irgendwann ein paar Jahre der Wende hast, wir waren ja mehr oder weniger alle im selben Alter. Nun haben wir eine neue Generation, in der auch alle ähnlich alt sind. Nicolò Zaniolo, Federico Chiesa, Nicolò Barella, sie wachsen gemeinsam. Sie machen das schon toll, aber manchmal brauchst du Zeit, vor allem in internationalen Spielen und im Nationalteam. Um das Spiel zu erfahren, das Spiel zu spüren, die Wichtigkeit der Partie zu spüren, um einfach besser zu spielen. 

Also war es ein Vorteil, eine eher einfachere Gruppe in der Qualifikation zu haben? 
Wir – Entschuldigung, sie – machten es einfach. Waren in jedem Spiel fokussiert und sehr organisiert, spielten gut und haben Talent. Wenn du all dies zusammenbringst, hast du eine gute Chance auf eine tolle Leistung – und genau das ist passiert. Dabei war das Team, das die WM verpasst hat, fast dasselbe, noch mit Buffon und anderen grossen Spielern. Aber manchmal passiert das halt. Die Leistung auf dem Feld spiegelt wider, was vorher im Training, in der Garderobe passiert ist, überall. Es geht nicht so (schnippt mit den Fingern): Okay, wir haben ein Spiel, gehen wir. Das können nicht viele. Als die WM verpasst wurde, herrschte keine tolle Atmosphäre. Es gab viele Gerüchte und Probleme. Dann verhaust du ein Spiel, und, peng!, bist du weg. Das ist passiert.

Allessandro Del Piero, Fussball, Nationalmannschaft Italien, Laureus, SI SPORT 02/2021

Alessandro Del Piero engagiert sich als Laureus-Botschafter. Hier spielt er beim Projekt «Kicking Girls» in Berlin mit Mädchen Fussball, die aus sozial benachteiligten Familien kommen.

Getty Images for IWC

Roberto Mancini schafft es also, eine gute Atmosphäre herzustellen?
O ja, definitiv. Das waren drei tolle Jahre mit ihm. Er hat viele junge Spieler geholt, die in der Nati debütierten. Und sie gewannen jedes Spiel in der Qualifikation. Das ist ein perfekter Vorlauf an die EM. Die Euro zu spielen, wird das nächste Kapitel im Wachstum.

Wer sind Ihre Lieblingsspieler in diesem jungen Team?
Drei tolle, talentierte Spieler habe ich schon genannt. Es wird auch für uns interessant zu sehen, wie sie an der EM spielen werden, gegen die grossen Teams. Dann haben wir Bonucci, Donnarumma ist sehr talentiert, oder Chiellini. Er ist zwar nicht mehr jung, aber ein toller Captain. Und viele, viele mehr.

Und sie spielen einen offensiven Fussball.
Ja, Mancini hat die Richtigen, um so zu spielen. Wir haben gute Techniker, gute Positionsspieler, die das Timing im Spiel bestimmen können. Und alle denken in dieselbe Richtung. Das ist das Wichtigste. 

2006 hatten Sie ein Team aus lauter Stars: Totti, Buffon, Pirlo. Wie schafften Sie es, zu einer Mannschaft zu werden?
Oh, auch wir hatten unsere Hochs und Tiefs. Aber wir haben unseren Traum definitiv wahr gemacht mit dem WM-Titel. Das gelang, weil wir damals wirklich zu einer Einheit verschmolzen. Es war komisch, was in diesem Sommer in Italien passierte. Da war der grosse Wettskandal, der all die italienischen Teams betraf. Wir fuhren an die WM, sassen in der Garderobe und sagten: Was passiert gerade? Nicht, weil wir nicht Teil des Systems sind – natürlich sind wir das. Aber wir sind nicht dafür verantwortlich, was die Manager tun. Wir wissen nichts davon, das ist nicht unser Job. Es war sehr schräg, schweisste uns aber gleichzeitig zusammen.

Allessandro Del Piero, Fussball, Nationalmannschaft Italien, Weltmeister 2006, SI SPORT 02/2021

«Es war Wahnsinn!» Die italienische Fussball-Nati wird 2006 nach dem WM-Sieg von den Tifosi in Rom im Circus Maximus empfangen.

Getty Images

Wie denn?
Wir sagten: Seien wir stark, stehen wir zusammen, und konzentrieren wir uns darauf, was wir tun müssen. Das soll unser Moment sein! Also reissen wir uns zusammen und legen alles, was wir haben, ins Spiel. Und das taten wir. Du musst vom Glück verwöhnt sein, um Weltmeister zu werden. Es passiert nur alle vier Jahre einem Team. In diesen paar Wochen bist du vielleicht nicht in Form oder verletzt, bist im Kopf nicht stark. Aber um die WM zu gewinnen, muss alles perfekt sein. Jeder hatte während der WM Ups und Downs: Ich, Totti, Pirlo – aber wir hatten einander. Und das war das Beste, das uns passieren konnte.

Dieses Jahr finden zum ersten Mal seit 30 Jahren wieder Spiele einer EM oder WM in Italien statt, die Euphorie muss riesig sein. Auch die Schweiz spielt in Rom. Was erwartet die Spieler, wenn sie am 16. Juni im Stadio Olimpico gegen Italien antreten?
Bei uns gibt es sehr grosse Erwartungen ans Nationalteam. Aber die Schweiz hat eine gute Mannschaft. Ich hab mit Lichtsteiner gespielt, ich kenne Shaqiri. Dass viele von ihnen in Italien, England oder anderen grossen Ligen gespielt haben, verstärkt den internationalen Spirit auf jeden Fall. Es ist ein grosses Team. Ich erinnere mich, als ich 2014 in São Paolo fürs Fernsehen am WM-Achtelfinal zwischen Argentinien und der Schweiz war. Ihr habt erst in der drittletzten Minute verloren. Das war ein tolles Spiel, auf Augenhöhe gegen eines der besten Teams der Welt! Die Schweiz hätte den Sieg verdient gehabt. Solche Dinge bleiben in unserem Kopf hängen. Natürlich gebe ich der Schweiz keine Empfehlungen.

Aber sie hat eine Chance?
Ihr müsst hoffen, dass Italien den Druck verspürt, zu Hause zu spielen. Das ist die beste Situation für den Underdog. Ihr habt alle Qualitäten, es zu schaffen. Taktisch und physisch habt ihr Spieler, die sehr gut sind. Es kommt also drauf an, wie ihr das Spiel angeht. Das ist der Schlüssel für Alle, natürlich. Italien ist in einer guten Phase. Aber die Euro kann etwas ganz anderes sein.

Was hatten Sie für ein Verhältnis zu Stephan Lichtsteiner, als Sie beide bei Juve waren?
Ein sehr gutes. Wir haben viel Respekt voreinander, ich mag ihn sehr (lacht). Ich lache, weil er durchaus ein sehr witziger Typ sein kann. Und er spielte bei Juve grossartig. Ich finde, dass er in seiner Rolle weltweit einer der Besten war in den letzten Jahren. Es gab einen anderen fantastischen Spieler auf seiner Position, das war Cafu. Aber es gibt nicht viele rechte Aussenverteidiger mit diesen Qualitäten: Gut im Verteidigen, aber auch gut im Angriff. Ich freute mich zum Beispiel sehr für ihn, als er 2018 im neuen Juventus-Stadion das allererste Tor geschossen hat. Das war etwas Grosses. 

Allessandro Del Piero, Fussball, Nationalmannschaft Italien, Lichtsteiner und Pirlo, SI SPORT 02/2021

Del Piero (l.) und Pirlo (r.) gratulieren Stephan Lichtsteiner 2011 zu einem Goal für Juve gegen Parma. «Wir haben viel Respekt voreinander.»

AFP via Getty Images

Welche weiteren Erinnerungen haben Sie an die Schweiz? Sie haben zum Beispiel mit Christian Constantin verhandelt.
O ja, ich erinnere mich. Als die Zeit kam, bei Juve aufzuhören, gab es viele Optionen. Eine davon war Sion. Wir hatten ein witziges, aber auch ernstes Gespräch. Ich mag seine Leidenschaft für den Fussball und sein Team. Ich will alles andere nicht beurteilen, aber er ist wirklich mit Hingabe bei der Sache. Und sonst: Wir Italiener haben ein gutes Verhältnis zur Schweiz. Am Ende des Tages ist ein Teil der Schweiz italienisch, ein Teil von Italien schweizerisch (lacht). An der Grenze sind wir irgendwie vermischt, ein gutes Beispiel von Integration. Ich habe viele gute Erinnerungen an die Schweiz. Okay, die Euro 2008, als wir in Bern und Zürich gespielt haben, war für uns nicht so toll. Aber das Land ist wunderschön. Ich bin zwar kein grosser Skifahrer, weil ich während meiner Karriere nicht fahren durfte. Aber ich liebe die Berge. 

Als die WM letztmals in Italien stattfand, waren Sie 15 Jahre alt. Welche Erinnerungen haben Sie? Wer war Ihr Idol?
Als Juve-Fan war natürlich Roberto Baggio meine Ikone. Aber auch Schillaci. Als italienische Fans lebten wir einen Traum. Alles war perfekt. Wir haben gelitten und gewonnen, die gesamte WM war ein toller Event. Ich lebte in einem kleinen Dorf im Nordosten Italiens. Im Sommer hängst du gemeinsam rum, schaust Spiele zusammen mit der ganzen Nachbarschaft. Das Penaltyschiessen im Halbfinal gegen Argentinien war ein Messer in unser Herz. Und dann verlierst du den Final 1994 wieder im Penaltyschiessen! Wir lieben Penaltys, aber nicht soo sehr (lacht). Ja, es war eine unglaubliche Reise, die nicht gut endete, aber es war wundervoll, in diesem Moment in Italien zu wohnen. Und Gott sei Dank war ich 2006 nicht in Italien, als wir gewannen – weil ich in Deutschland war (lacht). Aber meine Freunde hatten die beste Zeit ihres Lebens, sagen sie. Als wir mit dem Weltmeisterpokal nach Rom zurückkehrten, herrschte totales Chaos. Drei Millionen Leute kamen, um uns in Empfang zu nehmen. Es war wahnsinnig. Wahnsinnig! So lieben wir diesen Sport. Das wird die Schweiz natürlich spüren, wenn sie gegen Italien spielt. Bis zu diesem Moment sind wir gute Freunde, während 90 Minuten dann nicht mehr so sehr, und danach sind wir wieder gute Freunde. 

Allessandro Del Piero, Fussball, Nationalmannschaft Italien, USA, SI SPORT 02/2021

Mit seiner Frau Sonia Amoruso ist Del Piero seit 2005 verheiratet. Zusammen haben sie drei Kinder und leben in Los Angeles.

Gamma-Rapho via Getty Images
Von Eva Breitenstein am 11. Juni 2021 - 12:00 Uhr