Was wollte er damit sagen? Als der 47-jährige Barack Obama 2008 den 65-jährigen Joe Biden als Kandidat fürs Vizepräsidium wählte, bezeichnete er dies als «Schlussstein» von Bidens Karriere. Schlussstein? «Aber nicht mein Grabstein!», entgegnete der Ältere, der dem Tod schon mehrmals ins Auge sah.
Zwölf Jahre später, im Alter von 77 Jahren, übernimmt Biden die Führung der Weltmacht USA. Heute Mittwoch wird er zusammen mit Vizepräsidentin Kamala Harris in seinem Amt vereidigt – und soll so die «Seele Amerikas» wiederherstellen und das Kapitel «Vier Jahre Chaos» schliessen.
Es wird nicht einfach. Joe Biden ist der älteste US-Präsident der Geschichte. Und er zieht ziemlich angeschlagen ins Weisse Haus ein, gezeichnet von Dramen und Tragödien – sowie einigen Fauxpas. Rettet er nicht die Seele der Nation, dann muss er zumindest einen Wirtschaftsaufschwung herbeiführen. Sein Slogan verspricht es: «Build Back Better» (Besser wiederaufbauen).
Biden ist ein Pragmatiker, kein revolutionärer Schwätzer. Linke sitzen ihm jedoch im Nacken. Er wird ihnen wenigstens ein bisschen zuhören müssen. Doch er mag keine abgehobenen fundamentalistischen Theorien, welche sich Eierköpfe in grossen Universitäten der Ivy League (die Crème de la Crème der Elite) ausgedacht haben. In die er übrigens nie einen Fuss reinsetzte. In seiner Jugend während der 60er-Jahre nahm er kaum an den Unruhen teil, auch wenn der Vietnamkrieg und die Gegenkultur der Hippies das Land bewegten.
Er wächst nicht arm, aber in strengen und bescheidenen Verhältnissen auf. Zuerst in Scranton, einer konservativen Arbeiterstadt im Nordosten Pennsylvanias. Der Vater verkauft Occasion-Fahrzeuge und ist ein Trinker. Biden lebt deshalb abstinent, er habe bereits «genug Alkohol in der Familie» gehabt. Die siebenköpfige Familie zieht später ins vornehmere Delaware, wo Joe Biden Geschichte und Politologie studiert. Den Jura-Abschluss macht er an der Universität Syracuse in New York. Dort hat er eine Freundin, die er während Ferien auf den Bahamas kennenlernte. Sie heisst Neilia, wird seine Frau und schenkt ihm zwei Söhne und eine Tochter.
Die junge Familie zieht nach Wilmington, Delaware, wo Biden als Anwalt arbeitet. Etwas, das ihm peinlich war, hat er mittlerweile fast überwunden: Biden war Stotterer. Wie man dem Herr wird? Indem man Gedichte vor dem Spiegel aufsagt – oder zu Massen spricht. Ja, Joe hatte noch andere Ziele, als sein Leben in einer Kanzlei zu verbringen: die Politik.
Mit einer grossartigen Idee, einem überzeugenden Programm? Nein, Biden setzt auf Empathie und einfache Kommunikation mit seinen Mitmenschen, ein zuverlässiges Einfühlungsvermögen und einen grossen Ehrgeiz. Der Beweis: Seine beiden Hunde nennt Biden Senator und Gouverneur. Sehr bald schon, mit nur 30 Jahren, schafft er die Wahl auf lokaler Ebene und gewinnt damit eine verrückte Wette: Den etablierten republikanischen Senator James Boggs zu verdrängen. Joseph Robinette Biden (seinen Zwischennamen hat er von einer französischen Grossmutter) nimmt auf einem der beiden Senatorensitze des Staates Delaware Platz. Just in diesem Moment schlägt das Schicksal zu.
Neilia, die mit den Kindern losgefahren war, um einen Weihnachtsbaum zu kaufen, kracht in einen Lastwagen, der ihr den Vortritt abschnitt. Sie und die kleine Naomi sind sofort tot. Die Söhne Beau und Hunter werden schwer verletzt. Joe ist am Boden zerstört, tritt sein Amt aber dennoch an. Seine Vereidigung hält er im Spitalzimmer bei seinen Söhnen ab.
Eine lange Karriere beginnt – und das nicht als Hinterbänkler! Der junge Abgeordnete gelangt rasch in die mächtigsten und prestigeträchtigsten Gremien. Erst in die Justizkommission, welche die Richter für den Obersten Gerichtshof bestätigt. Dort leistet er sich den ersten Tolggen: In der Anhörung von Clarence Thomas beschuldigt die Juristin Anita Hill den Kandidaten und ehemaligen Arbeitgeber, sie missbraucht zu haben. Befrager Biden, ganz Macho, zeigt Mühe, ihr zu glauben.
Dabei liebt er die Frauen! Jill, seine zweite Gattin, die stets hinter ihm steht, kann das bezeugen. Wie alle anderen, die er jeweils äusserst liebevoll umarmt. Als Biden seine Kandidatur fürs Präsidentenamt ankündigt, kritisieren mehrere Frauen seine überanhängliche Art. Eine von ihnen wirft ihm sogar Schlimmeres vor. Kaum ernennt er die Kalifornierin Kamala Harris zur Vizepräsidentschaftskandidatin, verpuffen diese Vorwürfe jedoch.
Bei der Arbeit im Senat wandte sich Biden Abgeordneten aus dem Süden zu, um Kompromisse zu erreichen. Doch die waren ohne Zweifel Rassisten. Er zeigt zu viel Verständnis für deren Abneigung gegen das «Busing», das Transportieren von Schülerinnen und Schülern in andere Quartiere, um durchmischte Schulen zu erreichen. Und er macht sich stark für eine strenge Justiz, was dazu führt, dass die Gefängnisse voll sind mit jungen, schwarzen Kleindelinquenten. Biden mag es nicht, mit diesen Tatsachen konfrontiert zu werden, zumal die Afroamerikaner ihm heute eher wohlgesinnt sind.
Biden präsidierte zudem die einflussreiche aussenpolitische Kommission. Als 2002 George W. Bush den Kongress nach Erlaubnis fragt, einen als feindlich eingestuften Staat präventiv anzugreifen (jeder wusste, der Irak war gemeint), verbiegt sich Biden und tut sich mit anderen Demokraten wie Hillary Clinton zusammen, um Bush zu unterstützen. Ein weiterer Knick in seiner Biografie, den er manchmal zu vertuschen versucht.
Im Zusammenhang mit dem Irak steht die zweite Familientragödie: Sein Sohn Beau, Staatsanwalt von Delaware und Offizier in der Armee, wird nach Bagdad entsandt. Nach der Rückkehr entdecken Ärzte einen Tumor in seinem Hirn. Beau stirbt 2015. Der untröstliche Vater glaubt, Spezialmunition, die im Irak zum Einsatz kam, hätte den Krebs ausgelöst. Jetzt ist Joe Anti-Krieg. Als Barack Obama Verstärkung nach Afghanistan oder Bomber nach Libyen schickt, wehrt er sich jedes Mal vergeblich.
Doch hinter Obamas Asien-Strategie steht er voll und ganz, Biden mutiert zum Mann für China. Er kennt alle Drahtzieher der Kommunistischen Partei persönlich. In nur zwei Jahren trifft er Xi Jinping, Chinas Präsidenten, achtmal. Er teilt den weitverbreiteten Optimismus: Wenn man China wie einen Partner behandelt und in die Weltgemeinschaft integriert, wird es sanft, demokratischer und spielt früher oder später nach den Regeln. Das Gegenteil traf ein. Das ist der Grund, weshalb Donald Trump immer wieder behauptet, Biden wäre als Präsident nur eine Marionette Pekings. Seit man aber weiss, dass selbst Trump ein Konto bei einer chinesischen Bank besitzt, zieht das Argument nicht mehr recht.
Für Biden war es der dritte Anlauf zum Präsidentenamt. An die zwei ersten hat er schlechte Erinnerungen. 1988 bedient er sich an Reden des britischen Labour-Führers Neil Kinnock. Er muss aufgeben, noch bevor zwei Aneurysmen in seinem Hirn platzen. Sein Zustand ist derart ernst, dass ein Pfarrer zur letzten Ölung gerufen wird. 2008 verpatzt er seine Kampagne durch abfällige Bemerkungen über Obama. Der ernannte ihn dennoch zu seinem Vizepräsidenten. Und jetzt ist Biden selbst der mächtigste Mann der Welt.
Biden übernimmt nun einen Herkules-Job: die Corona-Pandemie kontrollieren und der Wirtschaft einen Aufschwung verschaffen. Die Linken rufen nach Milliardenhilfen und Infrastruktur-Sanierungen. Der radikale Flügel der Demokraten will die Spielregeln im Senat ändern, um mehr Macht zu erlangen. Und er will den Obersten Gerichtshof erweitern, um mehr progressive Richter anzustellen. Mit dem Wahlsieg beginnt für Joe Biden der Kampf erst.
Übersetzt und bearbeitet von Onur Ogul