«Für einen Deutschschweizer bist du noch ganz sympa.» So tönte es, als ich das erste Mal nach Lausanne kam. Es war in den 70er-Jahren. Damals verlangte die liberale «Nouvelle Revue de Lausanne», dass man den Lastwagen aus der deutschen Schweiz vorschreiben sollte, ab Murten nur noch französische Werbebotschaften zu tragen.
Ein latentes Anti-Deutschschweizer-Klima war spürbar. Dafür gabs für den Jungjournalisten überall Weisswein. Selbst beim Stadtpräsidenten von Lausanne, ob bei Chevallaz oder Delamuraz, war das Glas Chasselas vor dem Interview Pflicht, auch um zehn Uhr morgens.
C’est passé. Heute wird in Büros Kaffee serviert, am Mittag Mineralwasser getrunken. Selbst der Weinbauer Blaise Duboux von der Confrérie des Vignerons hat mir kürzlich in seinem Carnotzet nur Kaffee serviert, als er die Geheimnisse seines Bioweins erklärte.
Sahen wir in den 70er-Jahren pro Monat einen Afrikaner in Lausanne, war es sicher ein Priester auf Durchreise nach Freiburg. Heute ist Lausanne multikultureller als jede andere Schweizer Stadt, und die Deutschschweizer sind die beliebtesten «Fremden». Weil wir uns am besten integrieren.
Mein Bäcker heisst Wüthrich, mein Lebensmittelhändler Blumer und der Coiffeur Clavadetscher, aber mit keinem spreche ich Deutsch. Die Sprachterritorialität wird von den zugezogenen Deutschschweizern respektiert: Man spricht nur Französisch.
Als ich 2002 das zweite Mal von Zürich nach Lausanne kam, um die grösste welsche Tageszeitung zu leiten, habe ich nicht eine einzige abschätzige Bemerkung gehört. Ich wurde mit offenen Armen empfangen. Ein Genfer Anwalt hat mir sogar gesagt, «man hört an deinem Akzent, woher du kommst. Das ist prima. Die Leute denken, du seist effizient.» Lustig war, dass ich erst nach mehreren Wochen erfuhr, dass meine Sekretärin eine waschechte Baslerin ist, wir sprachen auch fortan nur Französisch miteinander.
Natürlich hat es hin und wieder Verstimmungen gegeben, brach der Röstigraben auf, diese «Barrière de rösti», die suggeriert, dass nur auf der einen Seite Rösti gegessen wird. Das ist natürlich falsch – die Welschen essen ebenfalls Rösti, nur heisst sie hier Pommes rissolées.
Bei jedem nationalen Urnengang, wo die Welschen anders stimmen, beschwören die Medien die Gefahr des Auseinanderdriftens. So wars bei der EWR-Abstimmung 1992, wo die Welschen nach Europa wollten und das «Blocherland» eben nicht. Die Schweiz hat es überlebt und die SVP heute sogar einen welschen Bundesrat. Au revoir Röstigraben!
Klar sind die Welschen staatsgläubiger und in sozialen Fragen spontan progressiver, weil sie von Frankreich inspiriert sind, wo das Volk denkt, der Präsident müsse alle Menschen glücklich machen. Wenn aber der Staat etwas vorschreiben will, das für Sicherheit und Umwelt gut ist, wird gemurrt: Gurtenobligatorium, Hundekot-Entsorgung, Abfallsackgebühr, Rauchverbote – alles blöde Eingriffe in die persönliche Freiheit! «Der Staat muss mir etwas bezahlen, damit ich den Abfall trenne», sagte mir ein Nachbar. Noch heute gibts in Genf keine Sackgebühr!
Vor ein paar Jahrzehnten hatten die Romands gegenüber der reichen Deutschschweiz einen Minderwertigkeitskomplex.
Das neu erwachte Selbstbewusstsein der Welschen hängt mit dem wirtschaftlichen Aufschwung zusammen, mit der Tüchtigkeit und dem Erfindergeist der Westschweizer. Die Waadtländer dürfen wieder wie früher behaupten, «il n’y en a point comme nous» – wir sind die Besten!
Heute ist das Wirtschaftswachstum am Lac Léman so gross wie in der Greater Zurich Area, es werden gleich viele Start-ups gegründet, die Kunstschulen in Lausanne und Genf sind renommiert, die EPFL wächst schneller als die ETH und schmückt sich mit spektakulären Bauten wie dem Rolex Learning Center oder mit weltberühmten Projekten wie dem Solarflieger von Bertrand Piccard.
Die Schnellzüge Genf–Zürich–Genf sind voll, auch wegen der vielen Firmenübernahmen und Fusionen. Als Tamedia den Verlag Edipresse schluckte, mussten die welschen Kader regelmässig nach Zürich fahren. Zu meiner Überraschung haben sie ihre schlummernden Deutschkenntnisse hervorgeholt und sich gut gemetzget. Sie entdeckten nebenbei staunend die Schönheiten der Deutschschweiz. Ein 50-jähriger Kollege beichtete mir: «Ich war zum ersten Mal in Zürich, es gefällt mir sehr.»
Natürlich gibts unterschiedliche Betriebskulturen: Im Welschland werden Probleme sofort, direkt und in spontan einberufenen Sitzungen angegangen, in Zürich muss alles geplant, auf Power Point dargestellt und in voraus terminierten Sitzungen durchgepaukt werden. Die Welschen machen dabei den Eindruck, alles auf die leichte Schulter zu nehmen, die Deutschschweizer zeigen ernste Gesichter. Unter dem Strich machen es beide gleich gut, die Welschen etwas schneller …
Die Hassliebe der Romands zu den Deutschschweizern zeigt ihr Witz: Humoristen wie Marie-Thérèse Porchet oder Vincent Kucholl und Vincent Veillon («120 Minutes», RTS) haben am meisten Erfolg, wenn sie zackige oder leicht durchgeknallte Deutschschweizer imitieren. Witze oder Cabaretnummern von Deutschschweizer Komikern über Welsche gibt es umgekehrt kaum. Weil sie sich gar nicht für die Westschweiz interessieren? Oder weil sie sie einfach gut finden? Wer weiss?
Man lebt im gleichen Land. Miteinander, aber lieber Rücken an Rücken. Jeder Tour-Operator weiss, er darf auf keinen Fall sprachlich gemischte Gruppen auf die Reise schicken. Sonst gibts ein Gstürm.
Noch mehr Artikel über die Persönlichkeiten und Trümpfe der Westschweiz gibts in unserem Dossier «Bienvenue chez les Welsches».