Der Nebel hängt tief über den schier endlosen Wäldern und verschluckt jegliche Aussicht auf den Schaffhauser Randen und den Appenzeller Alpstein. Der Wind weht bissig, die Luft ist feucht und kühl. Joseph Deiss (78) marschiert mit einem Lächeln auf dem Gesicht über das Feld oberhalb von Bargen SH. «Dieser Ort ist geheimnisvoll und historisch zugleich.» Dann zeigt er mit seinem Wanderstock auf einen 50 Zentimeter hohen rechteckigen Kalkstein, der aus dem Boden ragt und mit Inschriften versehen ist.
Der Stein markiert einerseits die Grenze zu Deutschland, andererseits den nördlichsten Punkt der Schweiz. «Eigentlich mag ich Grenzsteine nicht. Für mich sind Grenzen da, um übertreten zu werden.» Das schreibt der alt Bundesrat in seinem neuen Buch «In alle Himmelsrichtungen», in dem er wandernd die geografischen Extrempunkte der Schweiz miteinander verbindet.
Sieben Jahre sass der CVP-Politiker aus Freiburg im Bundesrat, von 1999 bis 2006. Erst als Aussenminister, wo er an vorderster Front für den Uno-Beitritt der Schweiz kämpfte. Dann leitete der Volkswirtschaftsprofessor das Wirtschaftsdepartement. Ab Juni 2010 präsidierte er ein Jahr lang die Uno-Generalversammlung in New York. «Mein Leben dort finanzierte ich selber. Meine Bundesratsrente hab ich die ersten zehn Jahre nach dem Rücktritt nicht angerührt. Erst ab 71 Jahren hab ich sie bezogen.» Diese Tatsache betont Deiss, weil Gegner im Abstimmungskampf zur AHV-Initiative andere Informationen über ihn verbreiteten. Auslöser war der Brief, in dem Deiss und vier weitere alt Bundesräte wie Adolf Ogi oder Doris Leuthard vor der 13. AHV-Rente warnten. «Ich habe nach wie vor nicht das Gefühl, dass ich etwas verbrochen habe», sagt Deiss.
Ein solches Schreiben von ehemaligen Regierungsmitgliedern an die Bevölkerung ist unüblich und löste eine Kontroverse aus. «Ich bedaure, dass es so emotional wurde. Mir ging es nie darum, es besser zu wissen.» Als früherer Gemeindepräsident kenne er die Sorgen der Leute, zudem habe er als Professor Armutsstudien betreut. «Ich bleibe dabei: Die Vorlage ist nicht sozial, weil das Geld an alle statt nur an die Schwachen geht. Aber das Volk hat abgestimmt, und das akzeptiere ich.»
Abmachung mit der Frau: Einmal im Monat wandern
Seine Überzeugungen zu wichtigen Fragen des Landes tut Deiss auch gern literarisch kund. So hat er seit der Pension rund zehn Bücher verfasst, darunter das von ihm aus dem Französischen ins Deutsche übersetzte «Aus dem Bauch des Pottwals» mit Anekdoten aus seinem politischen Leben. Dazu kommen Bücher über seine Reisen in den Südpazifik oder seine Fernwanderung von Freiburg nach Canterbury GB. «Reisen, wenn möglich auf der ganzen Welt, ist in meinen Genen verankert», sagt Deiss.
In der Stadt Freiburg aufgewachsen, in «einem Binnenkanton ohne Grenzen zum Ausland», kann sich der Sohn eines Einrahmers gut an seinen ersten Auslandsaufenthalt erinnern. «Ich war 13 Jahre alt, als ich mit dem Knabenchor des Kollegiums St. Michel für Konzerte nach Italien reiste. Beim Anblick des Doms von Florenz ging für mich eine neue Welt auf.» Seither hat er fast alle Länder der Welt bereist, die meisten davon nicht als Bundesrat, sondern als einfacher Tourist. «Es stört mich nicht, wenn in meiner Umgebung diese Unrast als pathologisch betrachtet wird.» Alles, was er beim Reisen brauche, seien ein gutes Bett und eine Dusche. Früher oft mit dabei: seine Frau Babette, mit der er Speisekarten aus aller Welt sammelt.
Wandern allerdings tut er am liebsten alleine. Zumal seine Frau nicht mehr so gut zu Fuss ist. «Ich habe mit ihr eine Abmachung: Einmal pro Monat darf ich mehrere Tag auf Wanderschaft.» Für sein neustes Buch war die Entfernung von seinem Zuhause in Freiburg nie allzu gross. Die 1700 Kilometer lange Route zu den vier geografischen Extrempunkten führt ihn in Etappen vom westlichsten Chancy GE zum nördlichsten Zipfel in Bargen und vom östlichsten Gipfel Piz Chavalatsch im Bündnerland bis zur äussersten Südspitze bei Pedrinate TI. Gestartet ist er im Juni 2022 – mitten in der Pandemie. «Covid regte an, mein Land auf neuen Wegen zu entdecken.»
«Ich stehe um fünf Uhr auf und mache Sport»
Zwischen 15 und 35 Kilometer pro Tag ist Deiss unterwegs, das sind bis zu acht Stunden. Den Ortsplan und die Infos zur nächsten Übernachtung im Sichtmäppli im Rucksack verstaut, die Leica-Kamera griffbereit im Bauchtäschli. Als er am 20. Januar 2021 zum «schwarzen Staa», dem Grenzstein von Bargen, wandert, liegt zwar kein Nebel über dem Wald – dafür knietiefer Schnee auf den Feldern. «Ich vergesse nicht, dass es auch der Tag ist, an dem Joe Biden, 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, sein Amt antritt», schreibt Deiss im Buch.
Heute blickt er mit Besorgnis auf die USA und die Welt. «Ob im Nahen Osten oder in der Ukraine – die Menschenrechte werden mit Füssen getreten. Das deprimiert mich.» Er sei in einer Ära aufgewachsen, in der die Menschheit begriffen habe, dass Krieg allen schade. Heute gehe die Eskalation einfach weiter. «Statt über Frieden reden wir über Waffenproduktion», enerviert sich Deiss.
Das Schreiben und das Wandern: Die Kombination hält sowohl den Körper als auch den Geist von Joseph Deiss fit. Seit er 24 Jahre alt ist, steht er um fünf Uhr morgens auf. «Dann mache ich 40 Minuten Sport, ziehe mich an und gehe noch eine Stunde laufen.» Danach gibts Frühstück mit seiner Frau, bevor er sich ins Büro zum Schreiben zurückzieht. Die ehemalige Arztgehilfin ist jeweils die Erste, die seine Zeilen zum Lesen bekommt. «Sie hat ein Gespür, was gut funktioniert und was nicht.» Eine Sonderbehandlung kriegt Deiss als alt Bundesrat bei den Verlegern nicht. «Ich muss genauso nach Verlegern suchen wie andere auch.» Gefragt ist sein Wissen bei seinen sieben Enkelkindern – die jüngste Enkelin ist bereits 18. «Ich war bei allen schon mal in der Schule. Der Austausch mit den Jungen ist bereichernd.»
«Statt einem Aussenminister haben wir deren 246»
Im Städtchen Stein am Rhein gönnt sich Deiss eine Stange Bier – wie oft nach einer Wanderung. Da schreibt er sich jeweils die Eindrücke für seine Bücher ins Handy und schickt diese per E-Mail nach Hause. Von seiner Tour für «In alle Himmelsrichtungen» sei ihm geblieben, wie «vielfältig und schön» die Schweiz sei – und wie stark sich die Bevölkerung gewandelt habe. «Die Zuwanderung hat die Schweiz dynamischer gemacht.»
Als Befürworter des EU-Beitritts beobachtet er die neu aufgenommenen Verhandlungen zum Rahmenabkommen genau. «Problematisch finde ich, dass heute jeder Verhandlungsschritt vorab im Parlament und somit in den Medien angekündigt wird. Statt einem Aussenminister haben wir deren 246. Das schwächt unsere Verhandlungsposition.» Für sein nächstes Projekt bleibt Deiss erneut in der Schweiz – er erwandert die Binnenkantone. Ganz ohne Grenzüberschreitungen.