Empörung, Entsetzen, Empathie: Die Entführung und brutale Ermordung der 33-jährigen Sarah Everard trieb die Menschen in Grossbritannien auf die Strasse – und sorgte für eine weltweite Bewegung für Frauenrechte. Was war passiert? Everard verlässt am Abend des 3. März um 21.30 Uhr das Haus einer Freundin südlich von London. Sie ist zu Fuss unterwegs, verschwindet spurlos. Eine Woche später wird ihre Leiche in einem Waldstück in der Grafschaft Kent im Südosten Englands entdeckt.
Die Spuren führen rasch zum Polizeibeamten Wayne Couzens. Der 48-Jährige ist im Metropolitan Police Service tätig, einer Abteilung für parlamentarischen und diplomatischen Schutz. Er hat der jungen Frau aufgelauert, sie vergewaltigt, den Körper entsorgt. Letzten Dienstag gesteht der Sicherheitsbeamte die brutale Tat, wie die britische Nachrichtenagentur PA aus dem Gerichtssaal berichtet.
Ob es sich um Mord oder Totschlag handelt, wird sich erst im Prozess herausstellen. Die forensischen Berichte stehen noch aus. Bei der Anhörung sitzt Everards Familie mit im Gerichtssaal. Die nächste Anhörung ist auf den 9. Juli angesetzt. Der Prozess soll im Oktober beginnen.
Der Fall führte landesweit zu einem Aufschrei wegen Gewalt an Frauen. Auch Prominente wagten sich ins Rampenlicht: Bei der Mahnwache in Clapham Common am 13. März, wo sich mehrere hundert Menschen versammelten, nahm sogar Herzogin Kate teil. Symbolisch legte sie Blumen nieder. Und zog mit ihrer Geste auch heftige Kritik auf sich.
Videos in sozialen Netzwerken zeigen, wie Polizisten mehrere Frauen gewaltsam abführten. Die Fotos gingen um die Welt. Dass die Polizei die Versammlung unter Berufung auf die Abstandsregeln in der Corona-Pandemie auflöste, passt ins Bild. Frauen, sagen Frauenrechtlerinnen, haben immer noch keine Lobby. Sie werden von Politik und Gesellschaft weitgehend im Stich gelassen.
Der Femizid an Sara Everard löste vor allem an Grossbritanniens Schulen eine Debatte über Sexismus und toxische Männlichkeit aus. Schockierend: Tausende Mädchen berichten auf der Internet-Website www.everyonesinvited.uk über sexualisierte Gewalt und sexuelle Belästigung an staatlichen Einrichtungen.
Das Tabu-Thema nimmt nach der Tötung der jungen Frau neue Fahrt auf. Man spricht von einem nationalen Skandal – dieser sei ein neuer MeToo-Moment im Bildungswesen. Seither haben Millionen Frauen im Internet ihre Erfahrungen mit Bedrohungen und Angst im öffentlichen Raum geschildert, unter ihnen jüngst auch Schauspielerin Keira Knightley, die in einem Interview die mangelnde Sicherheit im Alltag bemängelte.
So weit die Fakten. Offen ist nach wie vor die Frage, ob der Tod der jungen Londonerin hätte verhindert werden können. Medienberichten zufolge hatte sich der Täter Tage vor der Tat in einem Restaurant unsittlich entblösst. Offenbar wurde dem Vorfall – wie so oft – nicht nachgegangen. Auch in der Schweiz ist sexuelle Gewalt viel verbreiteter als gedacht: Mindestens jede fünfte Frau ab 16 Jahren hat bereits einen sexuellen Übergriff erlebt. Mehr als jede zehnte Frau erlitt Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen.
Aber nur jede zehnte geht damit zur Polizei, weil Scham und Ängste überwiegen. Dies geht aus einer repräsentativen Umfrage unter rund 4500 Frauen hervor, die das Forschungsinstitut gfs.bern im Auftrag von Amnesty International durchgeführt hat. Fazit nach dem Mord an Sarah Everard: Frauen wollen endlich mit ihren Ängsten gehört werden – und fordern ein Umdenken in der Politik und Gesellschaft.