Als Kind war ich überzeugt, dass Mani Matter in «Hemmige» über Hemden singt – «Hemmli», wie wir auf Berndeutsch sagen. Gewiss, weil ich die Bedeutung des Wortes «Hemmige» noch nicht kannte. Aber auch, weil «Hemmli» einfach Sinn ergab. Wenn Matter fragt: «Was unterscheidet d Mönsche vom Schimpans?» – dann war für mich klar: Menschen tragen Hemden, Affen nicht.
Und ich weiss noch, wie mich das Cover zur «Ysebahn»-Platte immer etwas traurig machte: Mani Matter so ganz alleine im Zug. Er tat mir leid. Erst recht, wenn ich daran dachte, wie er sich im Lied «Bim Coiffeur» in der Unendlichkeit verliert. Oder wie ich dachte: von hundert Mäulern gefressen wurde.
Ja wer hat sie nicht, seine ganz persönlichen Mani-Matter-Erinnerungen?
Am 24. November 1972 ist Mani Matter auf dem Weg zu einem Konzertauftritt mit dem Auto tödlich verunfallt, er war erst 36 Jahre alt. 50 Jahre nach seinem Tod berühren seine «Liedli», wie er sie nannte, noch immer Generationen. Sie sind Volksgut, Schulstoff, ja gar Handy-Klingelton. Warum haben wir noch immer nicht genug von diesem Mann, der als Einziger wissen könnte, wohin das «Nünitram» verschwand, als es die Schienen verliess?
Sein allererstes Lied, «Dr Rägewurm», dichtet Mani Matter als 17-Jähriger für einen Pfadiabend. Es basiert auf einer Melodie des französischen Chansonniers George Brassens und erzählt von einem Regenwurm, der sich in sein eigenes «Hinteränd» verliebt – er hält es für eine hübsche Frau.
Eine typische Matter-Geschichte, schon damals: witzig, aus dem Leben gegriffen (wer hat sich nicht schon mal gefragt, was bei einem Regenwurm vorne und was hinten ist?) und zeitlos gültig (wem war nicht schon mal sturm im Kopf vor lauter Verliebtheit?).
Und immer wieder führt Matter uns mit scheinbar banalen Zeilen in die Tiefe. Wir lachen – und am Ende bleibt uns das Lachen im Hals stecken, weil wir bemerken, was dieser Matter da eigentlich gesungen hat. Wie beim «Zündhölzli» oder dem «Wilhälm Täll». Obwohl früh klar ist, dass Matter eine Begabung fürs Liedermachen hat, studiert er Jura und arbeitet hauptberuflich als Rechtskonsulent der Stadt Bern. Als seine Lieder bekannter werden, kommen abends Auftritte hinzu. Daneben ist Matter politisch tätig und kurz vor seinem Tod «drauf und dran, ein nationaler politischer Kopf, eine moralische Instanz zu werden» – das schreibt Matter-Biograf Wilfried Meichtry.
Politisch sind auch seine Lieder. Immer geht es um demokratische Rechte, um Klein gegen Gross. Matter nährt unsere Sehnsucht, auch mal laut auf den Tisch zu hauen oder gar auszubrechen. Ich erinnere mich, wie ich früher mit meiner Schwester «Hansjakobli und ds Babettli» nachgespielt habe: Sie auf dem Tabourettli am Stampfen, ich unten am Rufen: «He, he, Frou Meier, machet doch nid so Krach!» Hei, war das ein Fest! Und wenn ich heute darüber nachdenke, muss ich sagen, Matter hat recht: «D Wält wär freier. We meh würd grüeft: He he Frou Meier!» Auch das ist typisch für Matters Lieder: Man begreift erst mit dem Älterwerden, was er meint. Wenn mein zweijähriger Sohn heute singt: «Dr Ferdinand isch gstorbe ojeh ojeh ojeh» – dann rührt mich diese kindliche Unbeschwertheit, mit der er über das Sterben singt.
«Der Tod von Mani war für uns alle sehr schwierig», sagt Joy Matter im Dokumentarfilm von 2002, «es war, als hätte man mir die Luft abgeschnitten.» Nebst seiner Ehefrau hinterliess der Liedermacher drei Kinder: Sibyl, Meret und Ueli, damals acht, sieben und fünf. Sie sind mit einem Vater aufgewachsen, der nicht mehr da, aber doch überall war.
Bis heute fühlen sich viele Menschen in Matters Liedern zu Hause – aufgehoben und geborgen –, ich auch. Wenn ich seine Lieder höre, denke ich an das Knistern des Plattenspielers meiner Eltern, an regnerische Sonntage und an meinen Vater, der mir sinnigerweise vor seinem Tod ein Buch mit Mani-Matter-Versen geschenkt hat.