Das Megafon funktioniert nicht. «Zum Glück, sonst wäre ich vielleicht versucht, eine Kundgebung zu starten», sagt Michael Elsener (37). Doch auch ohne laute Parolen schenken einige Passanten ihm im Zürcher Hauptbahnhof, dem «Melting Pot» der Schweizer Gesellschaft, wie der Satiriker findet, ihre Aufmerksamkeit – oder zumindest ein paar Blicke. Dieses Interesse würde der Zuger vor allem in diesem Jahr, in dem die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 175 Jahre feiert, lieber von seiner Person auf die Politik lenken. Der studierte Politikwissenschaftler will mit seiner politsatirischen Comedy sein Publikum auf positive Weise zum Wählen und Abstimmen bewegen.
Michael Elsener, wie viele Stunden haben Sie schon mit unserer Bundesverfassung verbracht?
Nach sechs Stunden Brüten bin ich tatsächlich schon auf der Bundesverfassung eingeschlafen. Bei der Recherche für meine neue Polit-Comedy-Show bin ich bei der Passage über die Bundesversammlung friedlich weggedöst. Da stand was Kryptisches von «… nach den Buchstaben a und b der Verordnungen …» Aber es hat schon auch Passagen in der Bundesverfassung, wo ich wach und hängen bleibe.
Zum Beispiel?
Faszinierend finde ich, dass grosse Sätze wie «Alle haben die gleichen Rechte» neben Sätzen stehen wie, dass die Autobahnvignette 40 Franken kostet. Rechtsgleichheit und Autobahnvignette sind also die Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Jedes Mal, wenn ich versuche, die Vignette mit dem Föhn von der Windschutzscheibe wegzubekommen, denke ich daran, dass dieser Aufkleber bei uns in der Verfassung verankert ist.
Wie erklären Sie demnach die Bundesverfassung?
Ein paar wenige 70 Seiten Papier, die uns extrem viel garantieren. Dass jeder Mensch das Recht auf Leben hat. Und dass die Todesstrafe verboten ist. Dass wir uns darüber einig sind, sagt schon sehr viel über unsere Gesellschaft aus und hält uns zusammen.
«Wählen und Abstimmen sind kein Nice-to-have»
Michael Elsener
175 Jahre Bundesverfassung – ein Grund zum Feiern?
Ja, weil uns dies zeigt, dass vor 175 Jahren ein paar Leute den Mut gehabt haben zu sagen: Trotz all unserer Unterschiedlichkeiten raufen wir uns zusammen und schaffen etwas Gemeinsames. Die Grundlage für eine Demokratie, die man nicht von heute auf morgen kippen kann.
Was «kann» denn unsere Bundesverfassung?
Viele Verfassungsartikel funktionieren wie eine Bremse der Vernunft, wenn mal wieder irgendwer schnell ein Gesetz zu einseitig verändern möchte. Andererseits: Wenn man nicht gern Steuern zahlt, kann einem die Bundesverfassung durchaus Hoffnung machen. Hier steht schwarz auf weiss: «Die Befugnis zur Erhebung der Mehrwertsteuer ist bis Ende 2035 befristet.» Also – wenn es Volk und Stände nicht anders wollen – noch zwölf Jahre durchhalten, dann haben wir wieder mehr Cash in der Tasche!
Und was lernen wir von ihr?
Dass die Bundesverwaltung vermutlich einfach eine grosse Mühle ist. Es heisst nämlich: «Der Bund stellt die Versorgung des Landes mit Brotgetreide und Backmehl sicher.» Wer wieder mal frustriert über zögerliches Verhalten vom Bundesrat ist, kann nachlesen, dass dieser sich in solchen Momenten bloss an die Verfassung hält. Die schreibt vor: «Der Bundesrat ist die oberste leitende und vollziehende Behörde des Bundes.» Der Bundesrat ist also bloss eine einfache Behörde, von Regierung steht hier rein gar nichts.
Aber können wir stolz auf das darin Geschriebene sein?
Wenn man die aktuelle Bundesverfassung der Lehrerin als Aufsatz abgeben würde, würde sie wohl sagen: «Ich komme bei deinem Text nicht nach. Du widersprichst dir ständig.» Es steht beispielsweise: «Niemand darf diskriminiert werden …», etwas später heisst es: «Der Bau von Minaretten ist verboten.» Ja, was jetzt?
Was würden Sie sofort in der Bundesverfassung verankern, wenn Sie könnten?
Ich würde sofort reinschreiben, dass Gesetzesänderungen innerhalb von 18 Monaten abgeschlossen werden müssen. Bei uns dauern Revisionen oft viele Jahre. Am Ende weiss keiner mehr, für welches Problem die beschlossene Regel denn eigentlich gedacht war.
Welcher demokratische Entscheid hat Sie denn besonders überrascht?
Ehrlich gesagt werde ich immer wieder überrascht. Wer etwa in den Bundesrat gewählt wird, hängt immer auch von der aktuellen Stimmung im Parlament ab. Da spielen taktische Überlegungen und Bauchgefühl der Politiker und Politikerinnen mit rein. So wird dann plötzlich ein Parmelin Bundesrat. Als Satiriker sage ich Danke, weil er sich super zum Parodieren eignet. Als Bürger finde ich es fragwürdig, wenn einer nicht fliessend Englisch mit ausländischen Ministerinnen und Ministern reden kann.
«Unsere Demokratie existiert zwar noch, wird aber nicht wirklich gelebt»
Michael Elsener
Es gilt der Volkswille. Ist der Wille des Volkes stark genug vorhanden?
Ich würde sagen Nein. Wenn mehr Menschen mit unterschiedlichem Background wählen gehen würden, würde mit der Zeit unser Parlament anders aussehen. Schauen Sie sich unser aktuelles Parlament an: Da sitzen 100-mal mehr Anwälte, als sie in der Bevölkerung vorkommen. So viele Anwälte hausieren nicht mal bei der Fifa.
Wieso liegt denn die Wahlbeteiligung bei uns, Stand 2022, nur bei knapp 46 Prozent?
Vermutlich weil man Selbstverständliches weniger schätzt. Ein wesentlicher Punkt ist wohl auch: Die Demokratie wirklich zu leben, ist anstrengend. Eine Demokratie fordert etwas von mir als Bürger und Bürgerin. Ich muss mich mit vielen Grundsatzfragen auseinandersetzen, muss viel entscheiden. Eine Demokratie braucht Zeit und Engagement.
Ist unsere Politik zu schwierig zu verstehen?
Ja. Vor Abstimmungen lese ich jeweils viele Artikel und Studien zu den Vorlagen, gewisse Passagen muss ich dreimal lesen, bis ich wirklich verstanden habe, was da gemeint ist. Damit dies nicht alle so machen müssen, veröffentliche ich meine Youtube-Clips «Elsener erklärt’s». Da versuche ich, auf unterhaltsame und witzige Art rüberzubringen, was die grossen Fragen einer Vorlage sind.
Wie können denn die Menschen fürs Wählen und Abstimmen mobilisiert werden?
Indem man klar sagt: Wählen und Abstimmen sind kein Nice-to-have, sondern wie die Familien-Weihnachtsfeier: Man muss schon starke Argumente bringen können, warum man nicht hingeht.
Ihrer Meinung nach soll das Wählen und Abstimmen also national obligatorisch werden?
Nein, dann hätte die Demokratie wohl schon verloren. Aber es sollte als etwas Selbstverständliches betrachtet werden, wie Zähneputzen. Wenn man es nicht tut, wird es mit der Zeit schmerzvoll – und schlussendlich auch teurer.
Was fasziniert Sie persönlich an Politik?
Wir debattieren in der Politik darüber, wie wir in Zukunft zusammenleben möchten. Das finde ich spannend, da möchte ich mit dabei sein. Ich lebe ja nur einmal. Und ich möchte in irgendeiner Form mit dazu beitragen, dass möglichst viele Menschen in unserer Gesellschaft das Leben führen können, das sie sich wünschen. Das könnten Sie auch als Politiker.
Wieso sind Sie bisher nicht aktiv in die Politik eingestiegen?
Ich fühle mich in der Rolle des Kommentators gut aufgehoben, sicherer. Menschen zum Lachen bringen ist meine Passion. Zudem fehlt mir etwas Wichtiges, was die meisten im Parlament haben: das Anwaltspatent.
Ab dem 1. März gehen Sie mit Ihrer Polit-Comedy-Show zum Wahljahr 2023 auf Tour. Das Programm ist interaktiv – mit welchem Zweck?
Ich frage an jedem Auftrittsort, welches das grösste Problem in der Gemeinde ist. Im Verlauf des Abends improvi-siere ich mit dem Publikum gemein-sam neue, kreative Lösungen dafür. Ich stelle den Leuten immer wieder unterhaltsame Entscheidungsfragen. So erfahren sie, wie anspruchsvoll es sein kann, einen Kompromiss zu finden, und erhalten so wieder mehr Respekt vor unseren Politikern und Politikerinnen, von denen dies viele jeden Tag immer wieder versuchen.
Sie suchen auch aktiv nach dem grössten Problem der Schweiz. Was beschäftigt die Menschen?
Es ist überraschend zu sehen, dass bisher keine der klassischen Sorgenbarometer-Antworten kamen. Vielmehr, dass es zum Beispiel nerve, dass viele Schweizer und Schweizerinnen jeweils sagen, die Schweizer hätten die beste Lösung für ein Problem gefunden. Das nerve und wirke arrogant. Oder auch: «Warum bleiben so viele Menschen einfach plötzlich stehen? Direkt nach dem Aussteigen aus dem Zug? Am Ende der Rolltreppe? Bei der Einführung einer Elternzeit?»
Am 12. September 1848 entstand die erste Verfassung. Die aktuellste Version kann in den meisten Orell-Füssli- Filialen kostenlos bezogen und an allen Standorten gratis bestellt werden – auch online beim Bund. Alle Infos unter www.1848-parl.ch/de/
Was beschäftigt Sie persönlich?
Ich habe einige Zeit in Ägypten verbracht. Die Menschen kämpfen dort um mehr Mitbestimmung, aber werden nicht gehört. Bei uns gehen 54 Prozent freiwillig nicht wählen. Dass nur noch eine Minderheit an unserer Demokratie mitwirkt, finde ich eines unserer grössten Probleme. Unsere Demokratie existiert zwar noch, wird aber nicht wirklich gelebt.
Zum Schluss: Sie nennen Ihre Show «Alles wird gut» – tut es das?
Ich finde, man kann nur etwas bewirken, wenn man positiv ist. Diese Stimmung möchte ich den Leuten zum Ende der Show gern mitgeben. Dass wir rauskommen aus der passiven Haltung und selber etwas bewegen. Das kann auch was Kleines sein. Ich finde dies ein stimmiges Credo: Es ist nicht unsere Schuld, dass die Welt so ist, wie sie ist. Es ist nur unsere Schuld, wenn sie so bleibt.