Melanie, du bist seit 27 Jahren mit Alain zusammen. Was ist er für ein Mensch?
Alain ist anders als alle anderen. War er schon immer.
Inwiefern?
Er liebt die Menschen. Er gibt seinem Gegenüber das Gefühl, du bist okay so, wie du bist. Er sagt niemandem, was er zu tun oder zu lassen hat. Auch mir nicht. Bei ihm darf ich wirklich ich sein, mit all meinen Unzulänglichkeiten. Er ist ein liebevoller, fürsorglicher Ehemann und Vater. Und obwohl er sich intensiv mit sich selbst und dem Leben auseinandersetzt, ist er extrem lustig. Ich liebe seinen Humor. Wir lachen so viel zusammen.
Die beiden begegnen sich bei einem Benefiz-Länderspiel in Wettingen zum ersten Mal. Die Aargauerin ist da gerade mal 20, Alain Sutter 25 und bereits ein Superstar. «Als er so cool die Treppe runterkam, lange Haare, sehr lässig – das gefiel mir.» Die Anziehung beruht auf Gegenseitigkeit. Alain spricht Melanie an und schreibt ihr seine Telefonnummer auf die Rückseite der Autogrammkarte. Alain: «Das habe ich nur einmal im Leben gemacht.» Melanie: «Die Karte habe ich noch!»
Geboren am 22. Januar 1968 in Bern als Sohn einer Coiffeuse und eines Büroangestellten. Mit 17 Jahren begann seine Fussballkarriere beim Grasshopper Club Zürich. Weitere Stationen: YB Bern, 1. FC Nürnberg, FC Bayern München, SC Freiburg und Dallas Burn (USA). Sutter spielte 62-mal für die Schweiz. Nach seinem Rücktritt arbeitete er als Fussballexperte beim Schweizer Fernsehen. Er ist Keynote Speaker und hat sich einen Namen als Coach im Bereich Stressmanagement gemacht. Das ist auch Thema seiner beiden Bücher, «Stressfrei glücklich sein» und «Herzensangelegenheit». Seit 2018 ist Sutter Sportchef des FC St. Gallen. Er lebt mit seiner Frau Melanie in Wettingen AG. Das Paar hat einen Sohn, Taya, 18.
Wie gings weiter?
Melanie: Ich bin eine neugierige Person und habe erst mal recherchiert. Unter seinem Telefonanschluss war eine Frau eingetragen! Da dachte ich: «Okay, Arschloch! Lebt mit jemandem zusammen und verteilt seine Telefonnummer.»
Angerufen hast du aber trotzdem.
Melanie: Ja, zum Glück. Der Anschluss lief zwar noch auf den Namen von Alains Freundin, aber die Beziehung war längst beendet.
Alain: Doch kein Arschloch! (Beide lachen herzlich.)
Melanie: Wir fingen an zu reden und hörten nicht mehr auf. Reden ist ja sowieso unser Ding. Seither sind wir zusammen. Eigentlich rund um die Uhr. Erst seit Alain Sportchef beim FC St. Gallen ist, sind wir tagsüber getrennt. Das war zunächst eine grosse Umstellung, vor allem für mich. Das kannten wir bisher nicht.
Ihr wart noch sehr jung, um euch für immer zu binden. Melanie war deine zweite Freundin, Alain. Du galtst als der bestaussehende Spieler der Bundesliga. Aber während deine Mannschaftskollegen nach dem Spiel um die Häuser zogen und mit ihren Abenteuern für Schlagzeilen sorgten, bliebst du mit Melanie zu Hause.
Alain: Ich hatte nie das Gefühl, etwas in meinem Leben verpasst zu haben. Definitiv nicht! Ich bin ein Familienmensch, meine Frau und unser Sohn Taya sind für mich das Wichtigste.
Melanie: Ich habe mich nie eingeschränkt gefühlt. Alain hat immer gesagt: «Da vorne ist die Tür. Du kannst jederzeit gehen. Wir sind hier zusammen, weil wir freiwillig zusammen sind.»
Das könnte man aber auch als «Friss oder stirb» interpretieren.
Alain: Stimmt. Gemeint ist aber etwas ganz anderes! In einer Beziehung hat man keinen Anspruch auf den anderen. Jeder hat sein eigenes Leben und kann für sich selbst frei entscheiden. Melanie gehört nicht mir. Und ich nicht Melanie. Jeder kann tun und lassen, was er will.
Melanie: Das macht unsere Beziehung aus. Ich gehe zum Beispiel spontaner auf Menschen zu, brauche soziale Kontakte. Alain weniger. Aber er hat nie erwartet, dass ich bei ihm zu Hause auf dem Sofa bleibe. Und ich habe nicht verlangt, dass er mich zu Events begleitet.
Alain: Diese Freiheit geben wir uns. Das ist wichtig.
Durch die Pandemie sind wir alle in unserer Freiheit stark eingeschränkt.
Alain: Die Menschen werden mit der Angst vor dem Sterben konfrontiert. Mit der Vergänglichkeit. Aber sie gehört zum Leben. Es kann von jetzt auf gleich vorbei sein. Wenn wir aus dieser Pandemie lernen, dass jeder Augenblick viel kostbarer ist, als wir das in unserem Alltagsstress wahrnehmen, dann wäre das sehr wertvoll für uns alle. Die Pandemie könnte einen ganz anderen Umgang mit dem Leben hervorrufen.
Im Moment führen die Unsicherheit und die Einschränkungen in vielen Familien zu vermehrten Konflikten.
Melanie: Nicht bei uns.
Alain: Wir gehen anders mit dieser Thematik um. Wenn ich mich ärgere, hat das mit mir zu tun. Nicht mit Melanie.
Wie bitte? Wenn deine Frau dich nervt, suchst du die Schuld bei dir?
Es geht immer um dich selbst! Diese Erkenntnis habe ich bei der Auseinandersetzung mit mir und durch meine Coaching-Erfahrung gewonnen. Wir allein sind verantwortlich dafür, wie wir uns fühlen. Wir allein treffen die Entscheidung, ob wir uns über jemanden ärgern wollen oder ob wir konstruktiv mit der Situation umgehen. Da gehts um Eigenverantwortung. Jeder ist für sein Wohlbefinden selbst verantwortlich. Das ist der Grundpfeiler unseres Zusammenlebens. Ich zeige also nicht mit dem Finger auf Melanie, sondern gehe in mich und schaue, was bei mir los ist.
«Ich habe viele doofe Entscheidungen getroffen»
Alain Sutter
Ein interessanter Ansatz. Das heisst, keinerlei Anspruch ist der Schlüssel zum Beziehungsglück?
Alain: Ich habe nicht den Anspruch, dass Melanie so sein muss, wie ich sie gerne hätte. Mit dieser Erwartung kann eine Beziehung ja nicht funktionieren. Da hätte man die ganze Zeit Stress. Natürlich bin ich nicht immer mit allem einverstanden, das ist völlig normal. Wir sind verschieden. Melanie ist Melanie, und ich liebe sie für das, was sie ist. Mit all ihren Ecken und Kanten.
Den anderen zu akzeptieren, wie er ist, scheint oft die grösste Herausforderung in einer Beziehung zu sein.
Aber das ist für mich Liebe! Ich möchte nicht, dass sich meine Frau für mich ändern muss. Dann würde sie von ihrer Schönheit verlieren. Jeder ist doch dann am schönsten, wenn er ganz er selbst sein darf.
Soll das heissen, es gibt bei euch keinerlei Konflikte?
Melanie: Doch, natürlich, wir haben auch unsere Probleme. Aber die Art und Weise, wie wir damit umgehen, ist matchentscheidend.
Alain: An einem Tag, an dem man richtig gut drauf ist, nimmt man gewisse Dinge völlig gelassen. An einem schlechten Tag ist die Zündschnur sehr kurz, und man explodiert wegen irgendeinem Nonsens. Das hat mit dem anderen doch einfach nichts zu tun.
Glücklich zu sein, auch wenn alle um mich herum nicht so sind, wie ich es gerne hätte – kann man das lernen?
Alain: Sicher! Das ist das Thema meiner Vorträge: Man muss aber die Verantwortung für sein Befinden übernehmen, das aus der Entscheidung resultiert, wie ich auf die Menschen um mich herum reagiere. Das ist natürlich ein Prozess. Ich bin da täglich dran.
Melanie: Wenn man andere Menschen für sein Glück verantwortlich macht, kann es schnell zum Taylor-Syndrom kommen. Elizabeth Taylor war achtmal verheiratet, aber nie glücklich.
Sich selbst kann man nicht entkommen. Man nimmt sich und seinen Rucksack immer mit.
Alain: Genau. Man nimmt sich mit in die nächste Beziehung. An den nächsten Ort. Doch auch der schönste Ort hilft nichts, wenn du mit dir selbst nicht klarkommst.
Ihr habt an vielen schönen Orten gelebt: Miami, Rom, Mallorca. Aufgewachsen bist du in einer Hochhaussiedlung im Berner Vorort Bümpliz. Deine Mutter hatte einen Coiffeursalon, dein Vater war Büroangestellter beim Bund. Welche Erinnerungen hast du an diese Zeit, Alain?
Der Wohnraum in dieser Siedlung war günstig, deshalb lebten dort viele Familien. Es hatte so viele Kinder, das war schön. Mein Bruder und ich waren immer draussen am Fussballspielen. Wir haben uns auch viel um unsere kranke Schwester gekümmert. Unsere Eltern haben uns da in die Pflicht genommen.
Deine jüngere Schwester ist schwerstbehindert zur Welt gekommen.
Das war sehr prägend. So etwas verändert das ganze Leben, vor allem das meiner Eltern. Daria brauchte so viel Aufmerksamkeit. Ich hatte jedoch nie das Gefühl, dass ich zu kurz komme. Als Kind geht man mit so was irgendwie unbeschwerter um, ich habe meine Schwester nie als Belastung empfunden. Das war einfach so. Ich hatte trotzdem eine superschöne Kindheit.
Du wurdest bereits mit 17 als Fussball-Jahrhunderttalent gefeiert. Du giltst immer noch als einer der besten Schweizer Fussballer aller Zeiten. Wurde dieses Talent auf der Wiese zwischen den Hochhäusern entdeckt?
Ich war schon als kleiner Junge gut – das hat man relativ schnell gesehen. Und nach der neunten Klasse bin ich dann direkt Profi geworden.
Da blieb keine Zeit für eine weiterführende Ausbildung.
Nein, meine Karriere ging so rasant los. Aber für mich hat das gepasst.
Alain und Melanie Sutter im Gespräch mit Susanne Walder. Walder ist erfahrene People-Journalistin, unter anderem war sie langjährige Unterhaltungschefin der Schweizer Illustrierten. In dieser Gesprächsserie für die SI interviewt sie Persönlichkeiten, mit denen sie auch privat bekannt ist. Im Mittelpunkt steht der Mensch. Wie wird man, wer man ist? Ein Blick hinter die Kulissen von erfolgreichen Karrieren.
Alain Sutters Laufbahn begann 1985 beim Grasshopper Club Zürich. Er spielte 62-mal für die Nationalmannschaft. 1994 schoss er an der WM mit gebrochenem Zeh und wehendem Haar ein unvergessenes Tor gegen Rumänien. Alain: «Der Höhepunkt meiner Karriere.»
Kaum ein anderer Schweizer Fussballer hat das Publikum mehr berührt als du. Kaum einer war so berühmt – weit über das Fussballpublikum hinaus. Viele behaupten heute noch, es war, als hätte dich ein besonderer Scheinwerfer im Stadion verfolgt. Da geht es nicht nur um die Anzahl Tore. Da spielt etwas anderes mit. Kannst du greifen, was das bei dir war?
Keine Ahnung. Aber darüber mache ich mir auch keine Gedanken.
Kaum einer hat aber auch so stark polarisiert wie du. Du warst der Sonderling, der Querkopf. Die wehleidige Susi. Der körnerpickende Vegetarier.
Dabei bin ich in meinem ganzen Leben noch nie Vegetarier gewesen! Das sind Klischees, die mit der Realität oft nicht viel zu tun haben.
Das Vegi-Image hast du wohl Uli Hoeness zu verdanken. Als du beim FC Bayern München eine schlechte Phase hattest, schimpfte der Bayern-Boss und Wurstfabrikant vor laufender Kamera: «Der Sutter müsste nur ab und zu mal auf sein Müesli verzichten und sich einen ordentlichen Schweinebraten einverleiben.» Ein Satz, der Schlagzeilen machte.
Meine Antwort aber auch! «Wie man aussieht, wenn man zu viel Schweinebraten isst, sieht man ja an Herrn Hoeness.»
Ziemlich rebellisch. Hoeness war dein Chef und ein absolutes Idol.
Nicht rebellisch, einfach nur sehr spontan und ehrlich.
Als du als Sportchef beim FC St. Gallen antratst, wurden öffentlich Bedenken laut. Der Sutter sei für diesen Job zu einfühlsam, zu weich, hiess es.
Und nun sind manche von meiner Konsequenz und Härte in der Sache überrascht. Eine Seite von mir, die bisher nicht öffentlich zum Vorschein kam.
Mit Konsequenz durchzuziehen, was du für richtig hältst, war doch schon immer deine Haltung. Zum Beispiel, als du dich auf dem Münchner Oktoberfest geweigert hast, für die Fotografen mit einem Humpen zu posieren. Weil du keinen Alkohol trinkst. Denkst du heute, du hättest mehr Kompromisse eingehen sollen?
Inzwischen kann ich sicher mit mehr Reife einschätzen, wo es sich lohnt, konsequent zu bleiben. Und wo es angebracht ist, fünf gerade sein zu lassen. Aber ich würde nichts in meinem Leben anders machen.
Es gibt nichts, was du bereust?
Nein! Aber nicht, weil ich keine Fehler gemacht hätte. Im Gegenteil: Ich habe viel Mist gebaut. Viele doofe Entscheidungen getroffen. Aber all die Entscheidungen, die ich getroffen habe, haben dazu geführt, dass ich heute der bin, der ich bin.
Auf deiner Homepage steht zuoberst: «Wenn ich mein Leben noch einmal leben dürfte, würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen».
Das ist ein Zitat von Jorge Luis Borges – einem argentinischen Schriftsteller. Die Aussage ist: Es lohnt sich nicht, Angst zu haben, einen Fehler zu machen.
Als Profispieler hast du sehr unter deinen Ängsten gelitten.
Ich war voller Ängste. Angst, keinen neuen Vertrag zu bekommen … Existenzängste … Angst, nicht zu genügen … Angst vor Kritik … Angst, ausgelacht zu werden. Heute bin ich viel unabhängiger von der Meinung anderer. Ich habe eine gewisse innere Freiheit erlangt. Wenn ich als Sportchef versuchen würde, es allen recht zu machen, dürfte ich diesen Job nicht machen. Bei mir muss keiner jammern kommen. Nicht mein Thema.
Aber wir wollen doch alle gemocht werden.
Schau, auch ich werde lieber gestreichelt als geschlagen. Das geht ja allen so. Aber ich mache die Dinge, die ich mache, nicht, damit ich gestreichelt werde. Ich mache die Dinge in meinem Leben, weil sie mir etwas bedeuten.
Bist du damals vor dem öffentlichen Druck nach Amerika geflüchtet?
Das kann man so nicht sagen. Ich hatte ja meinen Vertrag mit Dallas Burn. Aber ich war froh über diesen Transfer. Ich wollte weg vom europäischen Fussball. Ich wollte weg von der Aufmerksamkeit und der Wichtigkeit, die der Fussball in Europa hat.
Nach dem Karriereende blieb das Ehepaar Sutter in den USA und stieg ins Immobiliengeschäft ein. Von ihren Ersparnissen kauften sie einen völlig heruntergekommenen Apartmentkomplex in South Beach, Miami. Alain: «Die Wohnungen haben Melanie und ich eigenhändig renoviert. Wir haben Böden rausgerissen, Küchen eingebaut. Wir haben uns das alles selbst angeeignet. Learning by Doing. Und wir haben damit richtig schön Geld verdient.»
Das Ende einer Profikarriere ist nicht leicht. Wie war das bei dir?
Unglaublich herausfordernd. Direkt danach gehts erst mal um Trauerbewältigung. Trauer, das geliebte Hobby nicht mehr ausüben zu können. Nicht mehr in dieser Gemeinschaft zu sein. Dieser Spass in der Kabine. Viele soziale Kontakte fehlen auf einmal. Da entsteht eine Leere. Auch im Hinblick auf die Zukunft.
Was jetzt? Wie weiter? Was kann ich überhaupt ausser Fussball?
Genau! Alle diese Gedanken kamen. Aber äussere Gegebenheiten sind nur der Trigger für innere Herausforderungen, an denen es zu wachsen gilt. Wie ich schon sagte: Du kannst in Miami bei Dauersonnenschein am Strand liegen – wenn du mit dir selbst unzufrieden bist, hilft der blaue Himmel auch nichts.
Man selbst ist oft sein grösster Gegner.
Selbstverständlich, es gibt keinen anderen.