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Fotograf über Erinnerungen an Zeit im Dschungel

Alberto Venzago begleitete Bruno Manser unter Lebensgefahr

Fotograf Alberto Venzago lebte sechs Wochen mit dem Schweizer Regenwald-Aktivisten Bruno Manser im Dschungel. Unter höcht gefährlichen Umständen rettete er Bilder, die den aktuellen Film über den Verschollenen inspiriert haben.

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Bruno Manser

Undercover: Auf Bitte von Bruno Manser war «Geo»-Fotograf Alberto Venzago 1986, getarnt als Forstwart, beim Umweltschützer im Urwald von Sarawak.

Alberto Venzago

Der Übergang von der Zivilisation eines klimatisierten Hotelzimmers in Kuching zu der Realität der Kelabits Richtung Gulung Mulu ist brutal.

Meine beiden mechanischen Nikons mit vier Wechselobjektiven stecken in einer Fotografenweste. Im 30 Kilo schweren Rucksack trage ich Nahrungsmittel: Reis, Salz, Bouillon, Wasserentkeimungspumpe. Alles, was ich in den nächsten Wochen zum Essen brauche. Und eine Ersatzkamera samt Objektiv. Die 80 Filmrollen von Kodak stecken in einer bleiernen Kiste. Geschützt gegen die Röntgenstrahlen der damaligen Flughafenkontrollen.

Die analogen Filme sind Kodachromes, die einzigen Filme, die die Hitze überstehen. Leider sind sie nicht sehr lichtempfindlich. 80 Filme in kleinen runden Plastikdöschen, geschützt gegen Feuchtigkeit und Wasser. Meine Babys! Und ich werde verdammt noch mal alles tun, um sie heil nach Hause zu bringen.

Alberto Venzago

Gezeichnet: «Du musst verrückt sein», sagt der Bootsführer im Dschungel von Borneo zum Schweizer Venzago, damals 36 Jahre alt.

Alberto Venzago

Kaum verlasse ich Long Seridan auf einem Einbaum mit einem Aussenbordmotor Richtung letzter Missionsstation, wird mir klar: Kodachrome war die falsche Entscheidung. Der Wald ist dunkel. Nirgends ein Licht. Wie ein grosses hockendes Tier liegt er auf der anderen Flussseite. Es ist die Vor-Google-Earth-Zeit. Ich befinde mich auf einem weissen Flecken der Weltkarte. Mein malaysischer Bootsführer kann nicht verstehen, dass ich um die halbe Welt reise, um einen anderen Schweizer im Urwald zu treffen. «Du musst verrückt sein!»

«Mein Tropenschlafsack ist nass wie ein gebrauchter Putzlappen»

In der ersten Nacht finde ich keinen Schlaf. Das Longhouse steht zum Schutz gegen wilde Tiere auf Stelzen. Rundum Schnarchen und Gekicher. Ein langer Raum mit Dutzenden mir fremden Familienmitgliedern! Mein Tropenschlafsack ist nass wie ein gebrauchter Putzlappen. Ich auch.

Bevor die Missionare kamen, waren die Kelabits gefürchtete Jäger. Die jungen Männer mussten in der Pubertät eine blutige Trophäe nach Hause bringen. Schädel. Diese wurden auch benötigt, um die Seelen der Verstorbenen zu eskortieren, besonders wenn es sich um einen Anführer handelte, einer, der zu Lebzeiten wichtig war.

Alberto Venzago Bruno Manser

Falscher Film: «Kodachrome war die falsche Entscheidung. Im Urwald ists dunkel und hat es kein Licht», erinnert sich Fotograf Venzago.

Alberto Venzago

Doch jetzt sind sie christianisiert. Pastoren überredeten sie, auf ihren Lieblingssport, die Jagd mit ihrem Mandau mit verziertem Griff, zu verzichten. Schluss mit Totenköpfen bei ihren rituellen Festen. Ihre Geschichten sind Geschichte. Sie haben sich aufgegeben.

«Hoi, i bi de Bruno!»

Der Tag kommt so schnell, wie die Nacht geht. Hahnengekrähe, Kindergeschrei. Schweinegrunzen, fremde Küchengerüche.

Und dann steht er vor mir. Nickelbrille wie John Lennon, durchschwitztes Khakihemd, ein Bambusrucksack umgehängt und ein Speer. Barfuss. Und ein Riesengrinsen: «Hoi, i bi de Bruno!»

Bruno Manser schont mich nicht. Die ersten drei Tage stolpere ich ihm nach durch dieses tropische Gewächshaus. Abertausend imaginäre Treppen rauf und runter. Wie ein Pferd mit Augenbinde sehe ich meine durchnässten Stiefel im moosigen Fäulnisboden versinken. Eine umgestürzte Masoala-Halle. Ich habe Probleme, dem erfahrenen Waldläufer zu folgen, dessen nackte Füsse besser haften als meine teuren Stiefel. Bruno ist hier zu Hause, er kennt sie alle, die Gefahren des Dschungels. Er lebt ja auch schon zwei Jahre hier.

Alberto Venzago Bruno Manser

An der Grenze: Die Abholzer rücken vor. Bruno Manser, damals 32, flankiert von zwei Gefährten der Penan.

Alberto Venzago

Bruno weiss, wie man die Anwesenheit der Schlange erkennt. Er weiss, wie man den Rinden mit den rasierklingenscharfen Stacheln ausweicht, die die Haut mit ihren tausend mikroskopisch kleinen Zähnen schmerzhaft blutig aufreissen. Er braucht keinen Hund. Er liest die «Karte» der Penan an den zerbrochenen Zweigen, die ihm den Weg weisen. Ich bin total erschöpft von der Hitze, der Schwüle, den Blutegeln, die sich von den Ästen in meinen Hals fallen lassen und im Anus verschwinden. Eine blutige Angelegenheit, sie mit den Händen wieder rauszuziehen.

«Wir brauchen Wasser!»

Jetzt ist es Nacht. Innert zehn Minuten stockdunkel. Zykladen schreien um die Wette. Ein Höllenlärm, wie in einem Pink-Floyd-Konzert. «Wir brauchen Wasser!», schreit Bruno. «Bleib hier, ich versuch, was zu finden.» Meine Taschenlampe verschwindet in seinen Händen, und weg ist er.

Betäubt von der Feuchtigkeit, trifft mich die Wahrheit wie ein Hieb mit der Axt: Ich bin am Arsch der Welt. Wenn Bruno mich nicht mehr findet, werde ich hier sterben. Was am Tag dunkles Dickicht war, ist jetzt Hölle. An meinen Beinen krabbeln Riesenameisen, und Tausendfüssler suchen sich einen Weg nach oben in meiner Hose. Die Zuversicht, Bruno schnell wieder zurückzuhaben, schwindet. Dann erinnere ich mich an meine Walther-P.A.K.-9-mm-Pistole mit dem Leuchtmunitionsaufsatz. Meine Rettung! Doch als das Geschoss mit einem zischenden «Wusch» 60 Meter über mir in den Baumkronen verschwindet, weiss ich: «Das wars!»

Alberto Venzago Bruno Manser

Zerstört: Die Spuren der Verwüstung fressen sich durch das Land der Penan im malaysischen Sarawak auf
Borneo.

Alberto Venzago

Angst. Ein flackender Lichtschein. Bruno kommt zurück. Mit Wasser. Mein Zittern legt sich. Wie hat er mich gefunden?

Wir sind in einiger Entfernung von den Quellen des Sungai Magoh. «Nur noch drei Tage!» Doch dann der schreckliche Abstieg zum Sungai Tutoh. Das Ende der Welt.

Von Weitem hören wir den wilden Fluss rauschen, die Stromschnellen leuchten silbern. Beim Überqueren bleibe ich mit meiner Weste hängen. Der schwere Rucksack zieht mich immer schneller nach unten, ich kriege keinen Halt, keine Luft. Meine Weste – oder mein Leben!

Alberto Venzago Bruno Manser

Im Nachtlager: «Sie sind einfach da», beschreibt Fotograf Venzago seine erste Begegnung mit den Penan.

Alberto Venzago

Die nächsten sechs Wochen muss ich mit meiner Ersatz-Nikon FM2 und einem 35-mm-Objektiv auskommen. Der Traum, Bilder für «Geo» mit verschiedenen Brennweiten zu komponieren, ist vorbei. Back to the basics! Jetzt bin ich richtig gefordert. Jedes Mal, bevor ich fotografiere, muss ich das schwere Metallobjektiv am Feuer erwärmen, um die Feuchtigkeit zu vertreiben.

Salz, Zucker und Reis als Willkommensgeschenk

Erschöpft, triefend vor Nässe, übersät mit tausend Beulen, entdecken wir sie endlich nach einer Woche: Einundzwanzig halb nackte Penan, lehmverschmiert, ihr Teint wie das Licht der Dämmerung. Sie sind einfach da und sitzen auf Baumstämmen. Wir starren uns an und lachen. Als Willkommensgeschenk bringen wir Salz, Zucker, Reis, Tabak und Feuerzeuge.

Bruno strahlt. Wir sind angekommen. In dieser Nacht erzählt uns Buki vom Tod des Waldes. Und ich verstehe Bruno. Seinen Kampf der Nomaden gegen den industriellen Raubbau der Wälder. Sein Schwärmen von Sago und Wildschwein. Seine Welt.

Alberto Venzago Bruno Manser

Freundschaft: Die Penan freuen sich über Venzagos Salz, Zucker, Reis, Tabak und Feuerzeuge.

Alberto Venzago

Brunos warmherzige, wortkarge Art, sein Lachen und seine Begeisterung haben sich tief in meiner Seele eingekerbt. Wir fühlten uns rasch wie Brüder. Er ist mehr als ein neuer Alexander von Humboldt, er ist nicht nur Beobachter und Naturwissenschaftler, er ist ein Bekennender. Ungerechtigkeit zu sehen, reicht ihm nicht. Er musste bis zur Besessenheit gehen. Und hat alles riskiert. Gesundheit, Zeit und Energie. Und sein Leben.

Wir sitzen am flackernden Feuer und reden über die Zukunft. «Kannst du je wieder zurück in die Schweiz kommen?» Er zögert. «Es gibt hier noch so viel zu tun! Ich kann doch nicht weg.» Im Spass hat er manchmal gesagt: «Haben die Engel an die falsche Tür geklopft?»

Bruno Manser

Gejagt: Eine der letzten Aufnahmen von Alberto Venzago: Bruno Manser, der seit Mai 2000 vermisst wird.

Alberto Venzago

Du musst es wissen, lieber Bruno. Du bist jetzt einer von ihnen.

«Geo» meldet: «Als Bruno Manser im Jahr 2000 im Regenwald verschwindet, zweifeln viele daran, dass der erfahrene Waldläufer am Berg Batu Lawi verunglückt sein soll. Die Suche nach Manser bleibt erfolglos; vier Jahre später erklärt ihn ein Schweizer Zivilgericht offiziell für verschollen.»

Von Alberto Venzago am 9. November 2019 - 15:02 Uhr